Schwarzer Humor vom Feinsten

Dieses Buch ist so ungewöhnlich erzählt, dass ich es nicht mehr aus der Hand legen konnte. Ian McEwan stattet ein ungeborenes Kind im Bauch seiner Mutter mit einem unglaublichen Reflexions- und Aufnahmevermögen aus. Dabei kommt ein mehr als altkluger Fötus heraus, der die Welt, in die er erst geboren werden soll, besser durchschaut als die drei erwachsenen Protagonisten der Geschichte. Besonders nach ein paar Gläsern gekühlten Weißweins, die seine Mutter sich des Öfteren genehmigt (!), gelangt der Ungeborene zu glasklaren Erkenntnissen:

„Also. Meine Mutter hat meinem Vater den Bruder vorgezogen, ihren Mann betrogen, ihren Sohn ins Unglück gestürzt. Mein Onkel hat seinem Bruder die Frau gestohlen, den Vater seines Neffen hintergangen, den Sohn seiner Schwägerin zutiefst beleidigt. Mein Vater ist von Natur aus schutzlos, ich bin es durch die Umstände. (…) Zu viel, es zu ertragen, zu grausam, um wahr zu sein. Warum sollte sich eine Welt derart rauh gestalten?“

Weil Ian McEwan in die Abgründe der menschlichen Natur hinabsteigt und Trudy und Claude ihre böse Intrige spinnen lässt. Ihre Motive? Sie spekulieren auf einen großen Immobiliengewinn, wenn Trudy ihr Erbe veräußert. Die beiden Komplizen stehen sich in Gier, Neid und Abgebrühtheit in nichts nach. Und der Sex scheint ein weiterer Kitt ihrer Komplizenschaft zu sein – zum Leidwesen des Ungeborenen (so beklagt sich der voll ausgereifte Fötus, dass er ein paar Mal zu oft die Bekanntschaft mit Claudes Penis gemacht habe…).

Fertig ist eine ménage à trois, die für den ahnungslosen Dritten, Trudys Ehemann John, den Tod bedeutet. Und mir als Leserin ergeht es so wie dem ungeborenen Kind: Ich durchschaue die Intrige, kann sie aber nicht verhindern. Das ist ganz großes Kino. Wem das zu düster klingt, kann ich versichern: Ich habe oft laut und herzhaft gelacht, denn Ian McEwan lässt seinen Fötus wie einen Professor über die Welt im Kleinen und Großen dozieren. Köstlich! Apropos: Zur Lektüre empfehle ich einen grünen Smoothie, allerdings ohne Giftzusatz…

Ian McEwan: Nussschale, Diogenes, 277 Seiten.

1 Kommentar

Schreibe eine Antwort zu schachtldaifal Antwort abbrechen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s