Das Leben ist kein Nullsummenspiel

Das, was mir mit diesem Buch passiert ist, ist mir schon sehr lange nicht mehr passiert: Ich habe es ausgepackt und erst wieder nach 355 Seiten aus der Hand gelegt. Es hat so viele Emotionen in mir geweckt, dass ich ein Päckchen Taschentücher gebraucht habe, als gäbe es für die Menge an vergossener Tränenflüssigkeit einen Preis zu gewinnen.

Jules, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird, ist der jüngste von drei Geschwistern neben seiner schönen Schwester Liz und seinem älteren Bruder Marty – in Jules Augen ein Klugscheißer und Eigenbrötler. Die ersten Seiten erzählen vom typischen Familienleben, den Ausflügen und Urlauben, den Festen. Man erfährt, dass die Mutter an Weihnachten die Gitarre zur Hand nimmt und Moon River singt, und davon, dass sie es irgendwann zum letzten Mal tut. Von Anfang an ist klar: Alles steuert auf eine Katastrophe hin. Sie bricht über die drei Kinder hinein, als die Eltern bei einem Autounfall ums Leben kommen. Die drei Geschwister werden in ein Heim gebracht. Jeder ist nun auf sich gestellt. Jules wird das schmerzlich bewusst, als er seinen Bruder Marty, der in einem anderen Teil des Heims untergebracht ist, besuchen will, aber kurz vor dessen Zimmer von zwei älteren Jungs abgefangen wird, die ihn schikanieren und verprügeln. Jules ruft verzweifelt nach Marty, der nur ein paar Meter entfernt an seinem Computer sitzt. Aber Marty kommt nicht, um ihn zu retten. Erst sehr viele Jahre später wird Marty die Rolle des älteren Bruders ausfüllen können … bis dahin entwickeln die Geschwister eigene Strategien, um zu überleben. Liz flüchtet sich in Drogen und Sex, sucht die Bewunderung der Männer, kann sich aber nicht binden. Marty konzentriert sich auf Karriere und Erfolg, bleibt ansonsten unnahbar und leidet unter einem ausgeprägten Kontrollzwang. Jules tut sich schwer, überhaupt einen Weg und seine Rolle im Leben zu finden. Als er endlich angekommen zu sein scheint und er glücklich sein könnte, schlägt das Leben wieder einen Haken.

„Das Leben ist kein Nullsummenspiel. Es schuldet einem nichts, und die Dinge passieren, wie sie passieren. Manchmal gerecht, so dass alles einen Sinn ergibt, manchmal so ungerecht, dass man an allem zweifelt. Ich zog dem Schicksal die Maske vom Gesicht und fand darunter nur den Zufall.“

Vom Ende der Einsamkeit erzählt von der Sehnsucht nach Sinn angesichts der Zufälligkeit des Lebens. Unfälle oder Krankheiten ereignen sich, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, wen es trifft und ob es mit der Verteilung von Glück und Unglück gerecht zugeht. Das Leben mutet uns viel zu und einigen noch mehr. Aber Jules hat Geschwister. Sie brauchen einander und erfahren, wie wichtig es ist, Teil einer Familie zu sein, die da ist, wenn man sie braucht.

Die Geschichte kommt ohne Kitsch und Pathos aus – nur ganz ohne Tränen ging es bei mir eben nicht.

Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit, Diogenes, 355 Seiten.

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