Träume nie von einem Okapi

Was ist ein Okapi? Bei Wikipedia steht: „Ein Okapi, manchmal auch Waldgiraffe genannt, ist ein Paarhufer aus der Familie der Giraffenartigen. (…) Als sehr scheuer Bewohner des Regenwaldes ist es bisher nur wenig erforscht.“ Das trifft auch auf die Bewohner eines kleinen Dorfes im Westerwald zu: Sie sind scheue Einzelgänger, deren Leben und Verhalten ein weites Forschungsfeld darstellen. Man wird nicht immer schlau aus ihnen und doch wachsen sie einem schnell ans Herz.

Taucht nun ein Okapi im Westerwald auf, und sei es nur im Traum, verheißt das nichts Gutes. Denn wenn Selma von einem Okapi träumt, wird es in ihrem Dorf einen Toten geben. Die Nachricht von Selmas Okapi-Träumen verbreitet sich in der Regel in Windeseile, sodass alle Gelegenheit haben, falls sie selbst es sind, die bald sterben werden, das ein oder andere noch ins Reine zu bringen. Lebensbeichten sind die Folge, Briefe werden geschrieben, Geständnisse gemacht, die letzten Dinge geregelt. Stirbt dann tatsächlich jemand aus ihrer Mitte, sind alle froh, dass es sie nicht getroffen hat. Und dann geht das Leben weiter. Luise ist noch ein Kind, als sie miterlebt, wie der Tod in ihr Leben einbricht. Ein sich selbst verwirklichender Vater und eine abwesende Mutter sind nicht in der Lage, Luise Halt und Geborgenheit zu vermitteln. Nur ihre Großmutter Selma (die Rudi Carrell wie ein Ei dem anderen gleicht!) und der treue Optiker (der sein ganzes Leben lang heimlich in Selma verliebt ist) sind eine verlässliche Konstante in Luises Leben. Als junge Frau trifft sie dann auf Frederik, den Buddhistenmönch, der ganz plötzlich aus dem Unterholz hervortritt und in ihr Leben stolpert. Bis Selma am Ende wieder von einem Okapi träumt.

„Ich dachte, während ich der Tür beim Geschlossenwerden zusah, daran, dass Frederik gesagt hatte, er habe sich für diesen Weg entschieden, und ich dachte, dass ich mich noch nie für etwas entschieden hatte, dass mir alles immer eher widerfuhr, ich dachte, dass ich zu nichts wirklich Ja gesagt hatte, sondern immer nur Nein. Ich dachte, dass man sich von aufgeplusterten Abschieden nicht ins Bockshorn jagen lassen darf, dass man ihnen sehr wohl von der Schippe springen kann, denn solang keiner stirbt, ist jeder Abschied verhandelbar.“

Ein Roman übers Erwachsenwerden, über Freundschaft, Liebe und Zusammenhalt. Mariana Leky erzählt mit Komik und Herzenswärme. Selma, der Optiker, Luise und Frederik, sogar die düstere Marlies sind mir ans Herz gewachsen. Wie bei den Okapis gibt es auch bei uns Menschen vieles, was noch nicht restlos erforscht ist… Eine wunderbare Lektüre vom Anfang bis zum Schluss.

Mariana Leky: Was man von hier aus sehen kann, Dumont-Verlag, Juli 2017.

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