Der Stoff, aus dem die Albträume sind

Als berufstätige Mutter lese ich immer mal wieder aufmerksam Artikel darüber, wie Frauen in anderen Ländern Familie und Beruf unter einen Hut bringen – oder eben nicht. Schon sprachlich existieren Unterschiede: In Frankreich werden die Frauen, die für ein Kind zu Hause bleiben und eine berufliche Auszeit nehmen, als mère poules, Gluckenmama, bezeichnet. Ein Wort für „Rabenmutter“ kennt man hier nicht. Es wird gesellschaftlich akzeptiert und gefördert, dass Frauen mit Kindern ihrem Beruf nachgehen. Und obwohl die Geburtenrate in Frankreich höher ist als in Deutschland, liegt auch die Zahl der berufstätigen Mütter weit höher als bei uns. Die Französinnen sehen das als Errungenschaft der Gleichberechtigung, die ihre Mütter erstritten haben. Dazu kommen wirtschaftlichen Interessen. Das Leben im Großraum Paris ist sehr kostspielig. Da ist es die Regel, dass beide Elternteile Vollzeit arbeiten gehen. Wer es sich dann leisten kann, engagiert eine nounou, eine französische Nanny, die ins Haus kommt.

So ist es auch bei Myriam und Paul. Sie wohnen in einer schönen Pariser Altbauwohnung im 10. Arrondissement. Sie haben zwei Kinder, Adam und Mila. Paul ist viel unterwegs und arbeitet an seiner Karriere. Myriam fällt unterdessen zu Hause die Decke auf den Kopf. Als sich die Chance ergibt, wieder als Anwältin in einer Kanzlei zu arbeiten, suchen sie sich ein Kindermädchen. Keine, die sich vorstellt, ist Myriam gut genug. Dann tritt Louise auf. Sie hat die blonden Haare zu einem festen Dutt verschnürt, trägt eine altmodische Bluse mit Bubikragen, hat ein nicht zu deutendes Puppengesicht. Myriam ist sich sofort sicher, dass Louise die Richtige ist. Louise ist zuverlässig, allein und braucht Geld. Schon bald macht sie sich unentbehrlich. Die Kinder lieben sie. Die Eltern brauchen sie. Sie verreisen sogar zusammen mit ihr. Aber trotz der Nähe bleibt immer eine Distanz zwischen ihnen. Louise ist bloß die Angestellte. Im Grunde ist sie Myriam und Paul egal, Hauptsache, der Alltag funktioniert. Louise, deren prekäre Lebensverhältnisse und verkümmertes Seelenleben immer mehr Raum einnehmen, spürt das. Sie weiß, dass ihre Liebe nicht erwidert, ihre Fürsorge nicht gewürdigt wird. Wenn die Kinder älter sind, muss sie gehen. Und sie hat Angst davor, fallengelassen zu werden…

Schon die ersten Worte des Buches legen unmissverständlich offen, wie die Geschichte ausgehen wird: „Das Baby ist tot.“ Louise wird die beiden Kinder töten. Der Kindesmord steht am Anfang und folgt am Ende unausweichlich. Dazwischen legt Leïla Slimani akribisch und detailreich den Alltag der Familie offen, wobei Paul und Myriam genauso oberflächlich bleiben, wie sie sich Louise gegenüber geben. Beschrieben wird eine tragische Verflechtung, in der es nicht um einfache Schuldzuweisungen geht. Leïla Slimani verarbeitet einen Stoff, der aus den Albträumen von Eltern gemacht zu sein scheint.

„Als sie das Zimmer betrat, in dem ihre Kinder hingestreckt lagen, hat sie einen Schrei ausgestoßen, aus tiefsten Tiefen, das Geheul einer Wölfin. Es hat die Mauern zum Erzittern gebracht, und die Nacht ist über diesen Maitag hereingebrochen.“

Der Roman wühlt auch mich auf. Leïla Slimani packt mich bei meinen eigenen Ängsten als Mutter: Sind meine Kinder gut betreut? Handle ich egoistisch, wenn ich sie in fremde Obhut lege? Es ist die tägliche Zerreißprobe einer modernen Familie. Das Problem liegt dabei nur vordergründig an der Schwierigkeit, Beruf und Familie unter einen Hut zu bekommen. Viel schwerwiegender ist, dass das Interesse an den Menschen um uns herum nachlässt. So erschreckt mich, wie gedankenlos und egoistisch Myriam und Paul mit Louise umgehen. Louise ist, worunter sie selbst leidet: völlig allein.

Endlich einmal ein Roman, der hält, was schon vorher überall an Lob zu lesen war: Ein gutes Buch, das mit dem französischen Prix Concourt ausgezeichnet wurde, aber nichts für sensible Seelen.

Leïla Slimani: Dann schlaf auch du, Luchterhand, August 2017, 224 Seiten.

Ein sehr empfehlenswerter Artikel aus FAZ vom 1.9.2017 (online):

Sandra Kegel: Hand an der Wiege

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