Die Fee des frühen Morgens

Auf einem Marktplatz im finnischen Turku steht ein nackter junger Mann mit einem Messer in einem Brunnen und redet wirr von der Fee des frühen Morgens. Beim Versuch, den Mann aus dem Brunnen zu holen, wird er von einem Polizisten getötet. Kurze Zeit später brennt ein Familienhaus und ein kleiner Junge stirbt in den Flammen. Kommissar Kimmo Joentaa beginnt, die Hintergründe zu ermitteln und stößt auf eine tragische Verbindung zwischen den Ereignissen.

Um es kurz zu sagen: Sakari lernt, durch Wände zu gehen ist kein klassischer Kriminalroman. Aber das wäre für Jan Costin Wagner auch untypisch. Typisch ist, dass es ihm nicht um die Frage „Wer war es?“, sondern um die Menschen und ihr Seelenleben geht. Nie ist es nur Oberfläche, die er erzählt. Die Sprache ist an vielen Stellen „sphärisch“: Da ist viel von Himmelskörpern, von Licht, Sonne und Mond die Rede.

„In dem Sommer, in dem Marisa den Mond vermessen möchte, betritt Kimmo Joentaa den Raum, in dem das Meer zu Hause ist. Sanna schwimmt im Sonnensee. Petri läuft zwischen Bäumen auf der Flucht vor sich selbst. David löscht die Sonne aus. Magnus und Stefan spielen Leben, Aune und Valtteri stehen Hand in Hand, Leena tanzt mit dem Tod. Sakari lernt, durch Wände zu gehen.“

Reine Poesie, oder? Klangvolle Worte, auch wenn sie zu Beginn völlig unzuzammenhängend und kryptisch erscheinen. Es ist ein Roman wie ein Kaleidoskop: eine Art Fernrohr, durch das mich Jan Costin Wagner blicken lässt. So wie durch Drehen immer neue Bilder aus vielen kleinen Einzelteilen und deren mehrfacher Spiegelung erzeugt werden, so erzählt Wagner aus dem Leben der Personen, die in irgendeiner Form miteinander verbunden sind. Nach und nach ergibt sich ein Bild. Nicht alles löst sich auf. Vieles bleibt in Spannung zueinander. Dabei genügen Andeutungen, um die eigene Phantasie zu beflügeln und sich eine Vorstellung von der Komplexität des Geschehenen zu machen.

Die sonst für Kimmo Joentaa typische Schwermut befällt dieses Mal eher die anderen. Kimmo schöpft aus einem fast kindlichen Vertrauen ins Leben und aus der Liebe zu seiner 10jährigen Tochter. Die beiden verbindet ein sehr besonderes Vater-Tochter-Verhältnis. Sie achten gut aufeinander, ohne dass sie sich zu eng auf der Pelle hängen. Kimmo weiß, dass er Sanna nicht beschützen kann – weder vor den Gefahren des Badesees, in den Sanna zu jeder Tages- und Nachtzeit springt, noch vor Verbrennungen am Herd, wenn sie allein, ohne ihn, Essen kocht. Also lässt er sie machen. Mehr als einmal habe ich beim Lesen gedacht, dass ich von dem alleinerziehenden Vater Kimmo Joentaa auch einen Erziehungsratgeber lesen würde – das wäre dann noch ein ganz neues Genre, das Jan Costin Wagner erfinden könnte…

Der sechste Band der Kimmo Joentaa Reihe von Jan Costin Wagner: Sakari lernt, durch Wände zu gehen, KIWI Verlag, November 2017, 240 Seiten.

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