Von meinem Schreibtisch kann ich in der Ferne, oberhalb des Bergparks Wilhelmshöhe, die riesige Kupferstatue des Herkules sehen. Er ist Wahrzeichen der Stadt Kassel. Einen ähnlichen Blick mussten bereits Jakob und Wilhelm Grimm von der alten Torwache aus gehabt haben, als sie in Kassel als Bibliothekare für den Kürfürsten arbeiteten. Genau in dieser Zeit spielt auch der neue Roman Grimms Morde von Tanja Kinkel.
Ein kühler Märztag in Kassel 1821. Er beginnt mit einer grausamen Entdeckung: Eine frühere Mätresse des alten Kurfürsten wurde ermordet. Neben der Toten findet man ein Zitat aus der Märchensammlung der Brüder Grimm. Das wirft kein gutes Licht auf die Grimms, die ohnehin unter besonderer Beobachtung der Geheimpolizei zu stehen scheinen. Jérôme Bonaparte ist zwar aus Kassel vertrieben, aber auf Frankreich und alles Französische blickt man mit Argwohn. Die Brüder Grimm, deren Märchen nicht selten französische Wurzeln besitzen (was sie versucht haben zu verschleiern!), geraten unter Verdacht, französische Kollaborateure zu sein. Da die Schwestern zu Droste-Hülshoff Quelle des belastenden Märchenzitats sind, fühlen sie sich verpflichtet, den Grimms in Kassel zur Seite zu stehen. Vor allem Annette sieht sich herausgefordert, ihren Verstand unter Beweis zu stellen und dem arroganten Jakob zu zeigen, dass Frauen den Männern ebenbürtig sind. Durch ihre Neugier gerät sie allerdings selbst zur Zielscheibe für den Mörder…
Ich nehme an, Tanja Kinkel besitzt Herkules-Kräfte, weil es ihr gelungen ist, aus den vielen Quellen, Briefen und ihrem historischen Detailwissen einen unterhaltsamen wie lehrreichen Roman zu schreiben. Sie hat ein dichtes Bild der politischen Umwälzungen in Europa zwischen Französischer Revolution und Vormärz gezeichnet. In einer Welt der Mätressen und Demoiselles, der höfischen Bücklinge und aufrechten Gelehrten glänzt für mich vor allem die junge Annette zu Droste-Hülshoff. Sie ist ihrer Zeit voraus:
„Einmal hatte sie versucht, das Gefühl der Ohnmacht und des Drangs nach mehr in einem Gedicht zu fassen, das nicht sofort weggesperrt wurde. Fesseln will man uns am eignen Herde! / Unsre Sehnsucht nennt man Wahn und Traum / Und das Herz, dies kleine Klümpchen Erde / Hat doch für die ganze Schöpfung Raum! Ihre Mutter hatte Schlimmeres getan, als sie wegzusperren. „Ein wenig jungmädchenhaft-exaltiert, Nette“, hatte Therese von Droste gesagt, „aber daraus wächst du schon noch heraus.“
Als nächstes werde ich etwas von Annette von Droste-Hülshoff lesen, die ja selbst einen der frühen Kriminalromane der deutschen Literatur geschrieben hat. Dafür, dass sie mir ganz nebenbei diese Frau wieder ein Stück näher gebracht hat (mit ihrem Eigensinn und ihren Eigenheiten), sage ich Danke, Tanja Kinkel!
Tanja Kinkel: Grimms Morde, Droemer-Knaur, Oktober 2017, 480 Seiten.