Die Irin Jess Kidd lotet in Der Freund der Toten die Grenzen zwischen Fantasie und Wirklichkeit, zwischen Slapstick, Grusel und Kriminalgeschichte aus. Für dieses Lesevergnügen gibt es – zum Glück! – keine geeignete Schublade, auch wenn Jess Kidd dafür die Bezeichnung Mystery Novel verwendet.
Die Geschichte springt zwischen Frühling 1950 und 1976 hin und her. Es beginnt damit, dass die junge Orla brutal getötet wird. Ihr Baby, ein Junge, überlebt, wächst in einem Waisenhaus auf und kommt als unsteter Lebemann und Gelegenheitsdieb mit Namen Mahony 1976 nach Mulderrig zurück, um mehr über das Schicksal seiner Mutter in Erfahrung zu bringen. Den Frauen des Ortes verdreht er schnell die Köpfe. Vor allem Mrs. Cauley, einer in die Jahre gekommenen Theater-Diva, hat einen Narren an Mahony gefressen und unterstützt ihn mit all ihren Mitteln. Dazu gehört, dass sie ihm die Hauptrolle in ihrem diesjährigen Laientheaterstück anbietet. Bereits beim Vorsprechen für die anderen Rollen fühlen die beiden den Dorfbewohnern auf den Zahn. Sie versuchen, die Ereignisse um Orlas Verschwinden 1950 zu rekonstruieren. Bis hierher hört sich alles noch recht „normal“ an, aber an der Geschichte ist rein gar nichts „normal“. Mahony macht nicht nur die Bekanntschaft mit den Lebenden, sondern auch mit den Toten von Mulderrig. Er sieht und er hört sie. Und er ist darüber kein bisschen verwundert.
„In einem Leben wie dem von Mahony sind die Toten nämlich stets ganz in seiner Nähe. Die Toten zieht es zu den Verwirrten und Ungeschriebenen, den Beschädigten und Gebrochenen, zu denen mit großen Rissen und Lücken in ihren Geschichten, die die Toten furchtbar gern füllen würden.“
Auch die Natur mischt sich ein. Sie sendet Tierplagen, Stürme, sintflutartigen Regen, Froschinvasionen… Alles scheint beseelt und von geheimen Kräften gelenkt. Auch unbelebte Dinge tragen menschliche Züge: Regen hüpft selbstbewusst durch Traktorspuren und schwarzer Ruß sitzt wie ein Hündchen unter dem Tisch.
Manche Bilder klingen für mich so schief, dass sie schon wieder wunderbar sind, manches bleibt aber einfach seltsam, z.B. wenn eine Ratte faucht wie ein schlechter Elvis Imitator. Die Sprache ist teils poetisch, teils ausufernd schwulstig, dann wieder knapp und schnörkellos.
Die Geschichte hat von allem etwas zu bieten, ohne sich festzulegen, was es sein möchte. Jess Kidd serviert mir ein großes Stück Buttercremetorte mit exotischer Füllung und einer Bittermandel als Garnierung: Es war lecker, nicht alltäglich, aber noch mehr davon schaffe ich nicht.
Jess Kidd: Der Freund der Tote, Dumont-Verlag, September 2017, 384 Seiten.
Jess Kidd auf der Dumont-Verlagsseite