Auf dieses Buch bin ich auf Instagram gestoßen. Ich selbst poste dort Bücher und hole mir bei anderen Anregungen für meine Lektüre. Das Cover von Jungfrau hat mich sofort angesprochen – ich finde es einfach großartig: Das grüne Kleid, die Haltung der Frau, der in den Nacken gelegte Kopf, die Hände, die am unteren Rand verschwinden… eine erotische Ausstrahlung, ohne platt oder plakativ zu wirken. Der Titel liefert weitere Assoziationen: Jungfrau. Und der erste Satz machte mich vollends neugierig:
„Jake hatte es nicht gewollt, auf ihre Brüste zu starren, aber sie waren so nah, so absurd schön, glühend geradezu in dem tiefen Ausschnitt des verblassten blauen Kleids. Natürlich hatte er die Pressemitteilungen gelesen. Er erinnerte sich an einen Artikel, in dem sie schilderte, dass sie ihr jüngstes Kind nur sechs Monate vor ihrer ersten Bestrahlung noch gestillt hatte. Dann fiel ihm auf, dass sie keinen BH trug.“
Die Frau, die hier beschrieben wird, ist schon einmal keine Jungfrau (vielleicht ist sie der Gegenentwurf zu der Frau, die auf den nächsten Seiten auftritt…). Beeindruckend, wie die Autorin in einem einzigen Satz das pralle Leben auf die Fragilität des Lebens treffen lässt: das Stillen eines Neugeborenen und die Andeutung von Brustkrebs. Es ist zu vermuten, dass der Krebs der Grund für die Silikonbrüste der Frau im blauen Kleid ist.
Sprachlich hätten mir bereits ein oder zwei Dinge auffallen können: nah, absurd schön, glühend – das alles in einem Satz und als Beschreibung der weiblichen Brust? Glühend, im Ernst? Die Autorin versucht, neue Umschreibungen zu finden, experimentiert mit Sprache, die manchmal sehr dicht und haargenau Menschen und Situationen nachzeichnet, manchmal nach meinem Empfinden sehr konstruiert wirkt.
Eine große Stärke finde ich, dass sie Dinge nur anreißen muss und meine Fantasie läuft los. So entwerfe ich mir in Gedanken bereits nach dem ersten Satz das Bild eines Mannes in mittleren Jahren, der in einer wenig befriedigenden Beziehung feststeckt, sexuell bedürftig auf jeden ihm gebotenen weiblichen Reiz anspringt. Der besondere Hintergrund des Mannes wird auf den nächsten Seiten erzählt und bietet eine (große und zugleich traurige) Überraschung. Die besondere Wendung in dieser Story hat mir sehr gut gefallen, allerdings war ich enttäuscht, dass die Geschichte Jungfrau nach 43 Seiten beendet war. Tatsächlich war mir beim Kauf nicht klar, dass es sich um Storys handelt – den Untertitel hatte ich einfach nicht wahrgenommen!
Also: Wer Storys liebt, der greife gern zu Jungfrau von April Ayers Lawson. Wem eine zusammenhängende Geschichte wichtig ist, die einem roten Faden folgt, sollte lieber die Hände von der Jungfrau lassen. Für mich wirken die Storys wie Ausschnitte aus einem Schreiblabor – eine bemerkenswerter Schreibstil, der aber noch nach einer Geschichte sucht.
In der Presse wird das Debüt der Amerikanerin April Ayers Lawson als gigantisch, großartig und beeindruckend gelobt:
April Ayers Lawson: Jungfrau und andere Storys, Rowohlt Verlag, September 2017, 208 Seiten.
Rezension in der Neuen Zürcher Zeitung
Eine Übersicht auf Perlentauscher.de
Mein Eindruck nach der Lektüre deckt sich mit der Einschätzung auf literat(o)ur.blog:
Eine sehr gute und ausführliche Rezension findet sich auch auf literat(o)ur