Seit ich einen Hund habe und täglich lange Spaziergänge mache, komme ich seltener zum Lesen. Um trotzdem meinen Hunger auf die Neuerscheinungen zu stillen, lasse ich mir beim Gassigehen nun vorlesen. Das hat schon bei Elena Ferrantes Epos wunderbar geklappt und bei Kehlmanns Tyll, warum nicht auch bei Julian Barnes und Die einzige Geschichte? – Ganz einfach: Weil es nicht nur eine Geschichte ist, die Barnes erzählt. Es ist eine Abhandlung über die Liebe in Romanform. Viele seiner Sätze und Ausführungen sind so weise, dass ich sie mir gerne im Buch markiert hätte oder sie mir selbst auf der Zunge zergehen lassen möchte. So war die Rückspulfunktion oft in Gebrauch – und trotzdem reicht sie nicht aus.
Julian Barnes erzählt die Geschichte einer Liebe zwischen Paul und Susan in drei Teilen. Im ersten Teil lernen sich der 19jährige Paul und die 46jährige Susan im Tennisclub einer spießigen Kleinstadt „The Village“ kennen und lieben. Das allein reicht bereits als Stoff für einen Roman. Aber damit lässt es Barnes nicht bewenden. Wo andere das Augenmerk auf den Altersunterschied zwischen den Liebenden gelegt hätten – und auch ich dachte sofort an Mrs. Robinson und stellte mir den jungen Paul wie Dustin Hoffman vor – geht Barnes viele Schritte darüber hinaus. Mit Akribie und Konsequenz beschreibt er, wie es mit den beiden weitergeht: Im zweiten Teil leben sie als Paar in London zusammen. Im dritten Teil werden Susans Alkoholsucht und ihre Demenz zu einer so großen Belastung für Paul, dass er sie in fremde Obhut geben muss – nachdem er mehr als ein Jahrzehnt mit ihr verbracht hat.
Der Ablauf folgt für mich einer sehr stimmigen und in sich geschlossenen Bewegung vom Finden übers Vertiefen hin zum Loslassen. Die Liebe setzt diese Bewegung in Gang. Und es geht hier nicht um eine romantisch verkitschte Überhöhung von Liebe, sondern eine tiefe, ernste Zuneigung und Erkenntnis des jeweils anderen. Pauls Liebe zu Susan reift, wird belastet, ist belastbar, schlägt in Wut und Zorn um, ohne je ganz zu verschwinden. Auch als Paul am Bett der demenzkranken Susan sitzt, spürt er noch einen unverbrüchlichen Rest an Zuneigung, den er sicher verwahren muss, um sich selbst zu schützen. Wie er auch dann noch einige für Susan typische Wesenszüge ausmachen kann, ist sehr anrührend. Da ist etwas, das bleibt, auch wenn sich ein Mensch unter Demenz verändert.
Ich muss zugeben, dass mir der erste Teil nicht so gut gefallen hat wie die beiden anderen. Manches erschien mir aufgesetzt, wie z.B. der Kniff, dass Barnes seinen Protagonisten den Leser direkt ansprechen lässt. Immer wieder beteuert Paul, dass er seine Geschichte aus der Erinnerung aufschreibe und sich nicht sicher sei, ob die Autositze grün oder rot waren, das Wetter schön oder wolkig gewesen sei. Er könne sich nicht auf diese Details festlegen, denn die Erinnerung sei trügerisch. Das habe ich beim ersten Mal, als es erwähnt wurde, bereits verstanden. Ich war froh, dass diese Ansprachen dann weniger wurden, und die Geschichte Fahrt aufnahm.
Textpassagen, die mir besonders in Erinnerung geblieben sind? Zum Beispiel die Ausführungen zum traurigen Sex! Sie sind einfach – wie soll ich sagen? – brilliant, großartig, unglaublich präzise – ja, traurig?
Und am Ende bleibt mir auf jeden Fall der Gedanke in Erinnerung, dass es in der Liebe keine wahre oder falsche Liebe gibt. Jeder Mensch hat seine eigene Liebesgeschichte, egal ob wahr oder falsch, real oder nur in seinen Träumen. Es ist die einzige Geschichte. Und sie ist von Bedeutung.
Julian Barnes: Die einzige Geschichte, KIWI – Verlag, 304 Seiten, Februar 2019.
Spiegel online: Ein Mixed – und dann Liebe ein Leben lang? Rezension.
Der Tagesspiegel: Die Liebe ist eine Mulde, Rezension.
Deutschlandfunk: Eine literarische Reise in die Paarhölle, Rezension.