Hysteria

Ich liebe Himbeeren. Natürlich bio. Am liebsten selbst vom Strauch gepflückt. Vielleicht ein Grund dafür, dass ich zu Hysteria gegriffen habe? Auf dem Cover ist ein Himbeerstrauch abgebildet. Auf den zweiten Blick fallen mir die Raupen auf, die sich von Blatt zu Blatt fressen. Die Zeichnung stammt von Maria Sibylla Merian „Der Raupen wunderbare Verwandlung und sonderbare Blumennahrung“ –  Dass ich im Buchladen nicht daran vorbeigehen konnte, ist auch der Zeichnung der berühmten Naturforscherin zu verdanken, die vor mehr als 300 Jahren die Verwandlung von Raupen dokumentierte. Das Cover ist, wie ich finde, hervorragend gewählt. Eckhart Nickel beschwört in seinem Roman eine neue Zeit des Aufbruchs herauf und führt den Appell „Zurück zur Natur!“  konsequent weiter – in eine Art Öko-Diktatur.

Eigentlich hätte ich viel früher auf Hysteria stoßen müssen, denn der Roman stand bereits auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2018. Wenn es einen Preis für den besten ersten Satz eines Romans gäbe, Hysteria von Eckhart Nickel bekäme ihn von mir verliehen: „Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht.“ Das lässt bereits erahnen, dass der schöne Schein trügt und es mindestens ein Geheimnis zu lüften gibt.

Die Hauptfigur, Bergheim, ist ein hypersensibler Mensch. Er besitzt feine Antennen für Dinge, die anders sind, als sie auf den ersten Blick erscheinen. So stolpern seine Sinne über eine Schale Himbeeren. „Diese aber waren anders, sie leuchteten in schwärzlichem Purpur, was den Früchten etwas entschieden Jenseitiges gab.“ Dieser Satz ist schön, wunderbar und sonderbar wie so viele Sätze in dem Roman. Vieles bleibt vage. „Etwas Jenseitiges“ – das klingt bedeutungsschwer und in meinen Ohren leicht überspannt. Bergheim ist so – verstört? – angetan? – neugierig? – dass er dorthin geht, wo die Himbeeren herstammen: zur Kooperative Sommerfrische. Er stößt auf eine Gemeinschaft, deren Oberhaupt mit dem selbst gewählten Namen „Schöpfer“ die Welt renaturieren möchte: Alle Spuren des Menschen sollen zurückgedreht werden. Die Natur kann sich ihren Lebensraum zurückerobern. Der Mensch soll sich nur noch von Fallobst, Knospen und Blüten ernähren. Die menschlichen Bedürfnisse des Einzelnen zählen nicht länger. Der Mensch ordnet sich der Natur unter. Fortan führt er ein „spurenloses Leben“.

Wie konsequent Bergheim zu Beginn der Herkunft der Himbeeren nachgeht und zur Sommerfrische gelangt, hat mich in den Bann gezogen. Die Stimmung ist rätselhaft und beklemmend. Hier stimmt etwas nicht, das ist klar. Doch dann hat mich der Autor verloren. Durch das Hin und Her der Erzählung. Die Studienkollegen. Charlotte. Vergangenes. Gegenwärtiges. Ich habe Bergheim nicht zu fassen gekriegt, und auch nicht die Geschichte. Die Worte sind kunstvoll – wunderbar und sonderbar wie Merians Raupenbild, aber für mich bleiben sie so „künstlich“, wie die Früchte und Aromen durch und durch künstlich sind.

„Sie erweisen uns doch die Ehre, mit uns zu dinieren? Ich habe vorhin in der Küche vorbeigeschaut, und was ich auf der Schwelle dort gesehen habe, gibt Anlass zu großen Erwartungen.“ Bergheim war in der Tat mehr als hungrig und fragte sich, ob sein fragiles Befinden daher rührte, dass er seit dem Frühstück und den paar Beeren in der Kooperative nichts mehr gegessen hatte. (…) Der Professor klatschte in die Hände. „Ich rieche Wohlgeschmack. Zu Tisch!“

Also, ich muss sagen, nein, wohl eher zugeben, dass ich nach der Hälfte des Buches erst einmal all die schlauen Rezensionen zum Roman gelesen habe, denn ich hatte keinen Durchblick. Die Hauptfigur Bergheim hat mich nicht mitnehmen können in seine Welt. Die Sprache ist eine Reise in die Vergangenheit. Das Thema „Öko-Faschischmus“ hingegen ist hochacktuell und brisant, wie ich feststelle, als ich das Stichwort in einem Gespräch fallenlasse und ich damit eine hitzige Debatte auslöse. Wieviel Regulierung braucht der Mensch, damit er nicht nur über Plastikvermeidung oder Klimwandel redet, sondern auch endlich handelt? Fridays for future… Da liegt eine Menge Zündstoff. Eckhart Nickels Roman zündet bei mir leider nicht ganz. Vielleicht bin ich zu schlicht gestrickt dafür? Macht Euch selbst ein Bild. Das Feuilleton liebt Nickels Hysteria!

Eckhart Nickel, Hysteria, Piper Verlag 2018.

Literaturkritik.de

Rezension auf Spiegel-Online

Rezension auf ZEIT-Online

Rezension FAZ

Rezension im DeutschlandfunkKultur

 

 

 

2 Kommentare

  1. Hallo!

    Von der Prämisse her hat mir „Hysteria“ sofort zugesagt, jedoch hat das Buch meiner Meinung nach viel zu viel versucht und dann alle Themen irgendwie nur halbherzig abgegrast. Gern hätte ich bspw. mehr über dieses Zeitreise-Dings erfahren, doch als Leser bleibt man ratlos zurück.

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