Mehr Kontrastprogramm geht nicht: Nach Hysteria von Eckhart Nickel nun Grosse Freiheit von Rocko Schamoni. Dabei gibt es Gemeinsamkeiten, kaum zu glauben: Beide Autoren sind Jahrgang 1966, beide rechnet man der „Popkultur“ zu (hab ich gelesen, muss ich noch nachprüfen…). Darüber hinaus sind sie grundverschieden.
Rocko Schamoni nimmt uns mit auf St. Pauli und stellt uns den Kiez der frühen Sechziger Jahre vor. So ein bißchen Unterwelt, aber nicht zu viel, homöopathische Dosis, finde ich. Die Hauptfigur Wolfgang – Wolli – Köhler gab es tatsächlich. Wolli Köhler hat sich auf St. Pauli einen Namen gemacht. Erzählt wird sein Werdegang als junger Mann, der es zu Hause nicht mehr aushält, sich hierhin und dorthin treiben lässt und schließlich in St. Liederlich landet. Der Hamburger Kiez fühlt sich sofort wie Heimat an. Er arbeitet als Drogendealer, Porter (kannte ich auch nicht: der Türsteher, der wie ein Marktschreier für Kundschaft zu sorgen hat…), steigt dann auf zum Puffboss. Alles, was Wolli anfasst, verwandelt sich zu Gold. Seine Idee mit dem echten Live-Sex auf der Bühne schlägt wie der Blitz ein und beschert dem zwielichtigen Karl, der damals noch Wollis Chef ist, einen Geldregen. Das geht so lange gut, bis die Polizei den Laden dicht macht – wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Das ist dann auch schon der größte Aufreger. Natürlich darf in einem Roman über St. Pauli der Sex nicht fehlen. Und es mangelt nicht an Beschreibungen. Wolli ist ein Frauentyp. Ihn muss man auch einfach gern haben. Er ist der ehrlichste unter den unehrlichen Typen. Als die Frau seines Ex-Chefs ihn verführt, kann er nicht anders: Er ergibt sich ihr. Aber am nächsten Tag fährt er zu Karl und beichtet ihm die Geschichte – soll ja nichts zwischen ihnen stehen, was ihre Beziehung belastet…
Nun gut. Wolli ist die uneingeschränkte Hauptperson des Buches. Er zeichnet, er liest, er schreibt Gedichte. Eigentlich ein Feingeist. Er wäre gern Schriftsteller geworden. Er ist nicht so, wie man sich einen Zuhälter vorstellt. Etwas naiv stolpert er durch seine eigene Geschichte. Auch ein kurzer Gefängnisaufenthalt perlt an ihm ab, hinterlässt keine signifikanten Spuren. Ihm zur Seite stehen Randfiguren, die noch eine Menge Potential geboten hätten. Was für ein dunkles Geheimnis schleppt Wollis Freundin, die Prostituierte Mauli (Maulwurf), mit sich herum? Was treibt die Cartacala in ihren finstern Wahn? Was ist aus ihnen geworden? – –
Nebenbei gibt es ein bißchen Musikgeschichte: die Beatles (Wolli: aus denen wird nichts, die sind bald wieder weg vom Fenster) mausern sich zu Weltstars; etwas Politik: Mauerbau, Sozialismus, mit dem Wolli liebäugelt, außerdem bewundert er JFK , der 1961 zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wird; die Sturmflut 1962 und Helmut Schmidt als Innensenator Hamburgs dürfen nicht fehlen… Rocko Schamoni bemüht sich, die Zeit der frühen Sechziger lebendig werden zu lassen.
Für Menschen wie mich, die ein durch und durch bürgerliches Leben führen, bietet Rocko Schamoni die light Variante von St. Pauli – und das ist völlig in Ordnung. Das Buch liest sich an einem schönen sonnigen Tag runter. Ich exe es quasi weg wie die Protagonisten den Schampus. Manche Kritiker werfen dem Roman Kitsch, Nostalgie und Verklärung vor. Es sei erzählerisch schlicht. Aber ich vergleiche ihn auch nicht mit Heinz Strunks Der goldene Handschuh – da kommt sowieso nichts und niemand ran.
Mir reicht die light Version der Grossen Freiheit. Wolli Köhler verstarb 2017 – völlig verarmt, so lese ich. Wie konnte das passieren?
Rocko Schamoni: Grosse Freiheit, Hanser Literaturverlage, 2019.
Welt online: Sogar Schriftsteller kamen in sein Bordell
Interview mit dem Autor im Deutschlandfunk
Die Sueddeutsche Zeitung über den Roman Grosse Freiheit
Spiegel online über Rocko Schamonis Roman: Beat folgt auf Bums