Der Karpatenbär

Unser Gehirn ist eine Geschichtenfabrik. Ein eigenes Universum, ein nie versiegender Quell aus Worten und Gedanken, die sich zu Geschichten finden. Zunächst nur im Kopf, dann aber reihen sie sich auf Papier zu Sätzen,  bilden Abschnitte und wachsen zu Kapiteln und Romanen mit vielen hundert Seiten. Und am Ende spuckt der Drucker Geschichten in einer schwarzen Buchstabenflut aus …

Der Karpatenbär

„Wie viele sind es?“
„Viele.“
„Ich meine, über welche Zahl reden wir?“
„Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass das Papier mein Leben verstopft. Mein Arbeitszimmer quillt über. Ich schätze, es sind ein paar Tausend Seiten. Eng bedruckt. Ich wähle immer Courier als Schrifttype. Die wirkt, wie mit der Schreibmaschine getippt.“

„Warum drucken Sie sie überhaupt aus?“

„Warum denn nicht? Ich muss es schwarz auf weiß vor mir sehen, nicht blau-grau schwirrend neben einem blinkenden Cursor. Ich brauche etwas zum Anfassen, etwas Reales, ich muss das Papier in meinen Händen spüren, den Finger mit Spucke befeuchten und die Seiten blättern. Ich recherchiere ja auch analog. Ich lese Bücher, um die Welt zu verstehen, Zeitschriften, Anthologien, Enzyklopädien, egal was. Stapel um Stapel türmen sich die literarischen Ergüsse anderer in meiner Wohnung auf. Das ist nicht schlimm. Es macht mir nichts aus. Ich bin es nicht anders gewohnt. Wenn ich von einem Zimmer ins nächste gehe, wandere ich eben um die Stalagmiten aus Papier herum.“ Er hält inne. „Nein, das hört sich falsch an. Es steckt viel mehr dahinter, als ich zugebe: Ich liebe Bücher. Ich lebe gern mit ihnen zusammen. Sie leisten mir Gesellschaft. Sie sind wie die geladenen Gäste auf einer Party – Gäste stehen ja auch immer und überall herum.“ Wieder stockt er. „Das klingt, als wäre ich ein komischer alter Kauz. Das bin ich, aber darum geht es nicht. Ich drifte ab. Zurück zu meinem Problem. Es geht ja nicht um die Druckerzeugnisse anderer Leute. Noch einmal: Ich drucke sie aus, meine Geschichten, und lege sie ab, dorthin, wo Platz ist. Jede Geschichte liegt für sich. Ich stapele sie nicht übereinander. Es sind ja nur Blätter, noch kein gebundenes Werk. Ich könnte sie abheften. Dann müsste ich sie lochen. Darf man Geschichten Gewalt antun? Sie durchstechen und dann abheften wie einen x-beliebigen Bescheid oder wie die Nebenkostenabrechnung?“
„Gibt es noch andere Möglichkeiten, außer sie auszudrucken?“
Er schweigt.
„Wie wäre es mit einer Sicherheitskopie?“
Er schüttelt den Kopf. „Das ist nicht mein Problem.“
„Was ist ihr Problem?“
„Ich weiß es nicht. Aber was ich tue, dient nicht der Sicherung. Ich mache Kopien, ich besitze eine externe Festplatte, ich nutze einen Stick. Ich sichere, was ich produziere. Aber ich drucke sie nicht aus, um sie zu sichern.“
„Dann gehen wir einen Schritt zurück. Sie schreiben Geschichten.“
„Ich bin Autor.“
„Was haben Sie bisher veröffentlicht?“
„Einen Kurzgeschichtenband.“
„Ich halte fest: Sie sind Autor und schreiben Kurzgeschichten.“
„Nicht nur.“
„Was noch?“
„Geschichten eben, Romane. Es gibt da diesen jungen Mann, Oskar, den schicke ich durch die Welt. In jeder Geschichte erlebt er ein anderes Abenteuer. In Tibet sucht er das Glück, die Liebe findet er auf Hawai und Gelassenheit in Havanna.“
„Dann reisen sie selbst auch viel?“
„Nein.“ Schweigen. „Oskar ist der Abenteurer unter uns.“
„Und ihre Kurzgeschichten? Handeln die auch vom Reisen?“
Er atmet tief durch, lehnt sich in seinem Sessel zurück und starrt an die Decke. „Das ist so lange her, dass es schon nicht mehr wahr ist.“
„Wie meinen Sie das?“
„Die Kurzgeschichten habe ich im Studium geschrieben. Beobachtungen aus dem Alltag. Ein Mann, der zu schüchtern ist, um zu seinem lang ersehnten Date zu erscheinen. Jemand der die Identität eines Freundes stiehlt, um Karriere zu machen. Zwei Freunde, die einen Berg besteigen, aber nur einer kehrt zurück. So etwas. Das ist fast 20 Jahre her.“
„Dann war es damals kein Erfolg?“
„Das kann man so nicht sagen. Ein Achtungserfolg. Eine Erwähnung im Feuilleton. Ein paar Lesungen hier und dort. Eine Taschenbuchausgabe folgte.“
„Das klingt gut.“
„Für einen Erzählband ist es okay. Amerikanische Erzähler sind wesentlich erfolgreicher. Short Stories und Co laufen auf dem deutschen Markt von deutschen Autoren mittelprächtig. Und so hieß es in der Presse, dass meine Erzählungen lediglich ein Auftakt, eine Fingerübung sein können, für etwas Größeres. Ein Roman musste her.“
„Und?“
„Ich habe mich hingesetzt und die Geschichte eines Mannes geschrieben, der nach Siebenbürgen reist, um seinen Wurzeln auf die Spur zu kommen.“
„Sie waren auch nie in Rumänien?“
„Doch. Dort war ich. Zusammen mit meinem Vater, der damals noch lebte. Es ist seine Geschichte. Ich bin ein Kind der Ceaușescu-Ära. Ich habe noch drei Geschwister. Wir waren in Kronstadt, haben die Zinne bestiegen, die Wälder durchstreift und den Südosten bereist. Leider bin ich nie einem Karpatenbär begegnet.“
„Vielleicht ist das auch besser so.“
„Mein Vater ist als Kind einem Bären begegnet. Die Geschichte hat er sooft erzählt, es fühlt sich an, als hätte ich sie erlebt. Er war auf dem Weg von der Schule nach Hause. Ein paar Kilometer Fußweg. Er nahm gern die Abkürzung über einen kleinen Fluss, wohl eher ein Bachlauf, aber für ein kleines Kind ein reißender Strom. Darüber eine selbst gebaute Brücke aus Baumstämmen. Kein Geländer. Mein Vater Michael – Misch riefen sie ihn damals – balancierte über einen dieser Stämme, verlor das Gleichgewicht und fiel ins Wasser – und zwar rücklings. Sein Ranzen und alles, was darin war, glaubte er verloren. Er bekäme Ärger, großen Ärger und sicher eine Tracht Prügel. Am Ufer leerte er den Inhalt des Tornisters und breitete die Bücher und Hefte in der Sonne aus. Er war so in Gedanken, dass er nicht bemerkte, dass ein Bär seine Spur aufgenommen hatte. Als Misch aufsah, war es für eine Flucht zu spät: Das Tier hatte sich vom Waldrand gelöst und preschte auf ihn zu. Was hatte ihm Tata für einen solchen Notfall geraten? Misch warf sich auf den Boden, den Kopf auf die Erde, die Hände in den Nacken. Der Bär hob zum Sprung an. Misch schloss die Augen. Mit einem Satz sprang der Bär über ihn hinweg. Eine Bärenkralle streifte seine Wade und zog einen langen Striemen. Nur eine leichte Verletzung, die ihm aber bewies, dass er sich das alles nicht eingebildet hatte. Der Bär war echt. Aber er hatte es nicht auf ihn abgesehen, sondern auf den Apfel, der aus seinem Rucksack gekullert war und neben seinen Sachen in der Sonne lag. Er schnappte sich sein Frühstück und tapste gemütlich zurück in den Wald, nicht ohne vorher auf all seinen Heften und Büchern Spuren hinterlassen zu haben. Misch fing sich zu Hause eine saftige Ohrfeige ein, schließlich waren ein paar der Schulhefte völlig ruiniert.“ Er macht keine Pause, sondern spricht sofort weiter.

„Danach habe ich mich an einem Zukunftsroman versucht. Der Plot geht ungefähr so: Die Erde vergeht unter einer glutroten Sonne. Die letzten Menschen leben in Biosphären. Die Lebenserhaltung wird immer schwieriger. Ein finaler Kollaps droht. Die Menschen müssen die Erde verlassen, um auf dem Mars zu siedeln. Der Platz in der Marsbiosphäre reicht aber natürlich nicht für alle Menschen. Doch nach welchen Kriterien werden die Marssiedler ausgesucht? Intelligenz? Schönheit? Zeugungsfähigkeit? Gesundheit? Pure Genetik? Oder zählen Geld, Macht und Einfluss? Werden die Besten überleben oder die Reichsten? Und besitzt nicht auch ein schwaches Glied einer Gemeinschaft das Recht auf Leben? – –
Und dann ist da noch mein Auswanderer…“

„Ein Marsianer?“

„Nein, nein, eine andere Geschichte. Mein Auswanderer sucht nach einem Fleckchen Erde, auf dem er sesshaft werden kann, die einzige Bedingung: Es muss ein Ort sein, an dem noch kein Mensch vor ihm gewesen ist. Doch überall, wo er hinkommt, war bereits ein anderer vor ihm. Massentourismus am Himalaya. Kiribati, Tuvalu, Antarktis. Die Paradiese dieser Welt sind alle bereist und auch noch der kleinste oder abgelegenste oder kälteste Ort der Erde besitzt wenigstens einen internationalen Flughafen. Am Ende strandet unser Abenteurer in Brandenburg an der Havel.“

„Sagte nicht Goethe bereits, das Gute läge so nah?“

Er geht nicht darauf ein, sondern fährt fort, als handele es sich um eine genau einstudierte und oft geprobte Rede.

„Ich habe mich auch an einer Komödie versucht und an einem historischen Roman über die Brüder Grimm, aber da waren andere wohl schneller als ich.“
„Tut mir leid. Ab hier komme ich nicht mehr mit. Es ist so viel…“
„Zu viel!“ Er rutscht aus dem Sessel nach vorn und sieht ihn groß an. „Genau das ist der Punkt, an dem ich mich befinde: Es ist zuviel. Ich weiß nicht mehr wohin mit meinen Gedanken, Ideen und Texten!“
„Warum veröffentlichen Sie nicht?“
„Warum?“, wiederholt er. Sein Blick taxiert einen Punkt an der Decke, als könnte ihm von dort oben eine Antwort zuwachsen.
„Ich meine, dafür schreiben Sie doch, dass es veröffentlicht wird, oder?“
„Aber es muss gut sein“, sagt er bedächtig,. „Wirklich gut. Ich kann kein halbgares Zeug aus der Hand geben. Das wäre eine Totgeburt. Diese Texte sind nicht lebensfähig, noch nicht.“
„Aber warum drucken Sie sie dann aus?“
„Sie verstehen das nicht. Ich schreibe und schreibe, ich überarbeite auch am Computer, aber es kommt der Punkt, an dem meine Geschichte unweigerlich das nächste Stadium erreicht: Ich bin fertig mit ihr, aber sie ist noch nicht so ausgereift, dass ich sie in fremde Hände legen könnte. Meine letzte Sichtung nehme ich am ausgedruckten Exemplar vor. Man wird blind für etwaige Fehler, wenn man nur am Bildschirm daran arbeitet. Ein Text sollte außerdem eine Weile liegen. Danach hat man als Autor genug Distanz, um mit frischen Augen den letzten Durchgang zu wagen, bevor ein Agent oder ein Lektor das Werk zu Gesicht bekommt.“
„Das scheint ein langwieriger Vorgang zu sein.“
„In der Tat! Und wenn ich diesen letzten Durchgang auf Papier hinter mir habe, gehe ich zurück an den Schreibtisch und arbeite die Korrekturen ein.“
„Dann ist er fertig, der Text?“
„Nein! Dann drucke ich ihn erneut aus. Er liegt wieder und wartet, dass ich ihn lese, für gut befinde und freigebe.“
„Was Sie aber nicht tun?“
„Doch! Ich lese ihn. Wieder fallt mir dies und das auf. Der Text ist nicht perfekt. Ich streiche daran herum, entdecke Ungereimtheiten, Fehler. Er muss zurück in die Überarbeitung.“
„Am Computer?“
„Wo sonst? Ich kann doch kein Skript einreichen, in dem ich mit Bleistift Markierungen vorgenommen habe.“
„Haben Sie auf diese Weise je eine Geschichte beendet?“
Die Anspannung weicht aus seinem Körper, seine Schultern senken sich.

„Sehen Sie. Das ist mein Problem.“

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