Beruflich hatte ich viele Jahre lang mit Tod und Sterben zu tun. Letztes Jahr habe ich begonnen, meine Leidenschaft zum Schreiben mit meinen Gedanken und Erfahrungen rund um das Thema Tod zu verbinden. Herausgekommen sind skurrile Geschichten, tragische Geschichten, nachdenkliche Geschichten. Nun gibt es endlich mal wieder eine neue Story: hier kommt sie, ganz frisch!
Die Köpfe der Rosen lassen die Köpfe hängen – wie stumme Statisten in einem Theaterstück. Nur das Schleierkraut scheint keinen Tag gealtert zu sein. Es ist einer dieser typischen Sträuße, mit Lederfarn gebunden und in Plastik gewickelt, solche, die man am Bahnhof mitnimmt oder an der Tankstelle. Sie hat sie mehr für sich als für ihre Mutter gekauft. Damit sie eine Aufgabe hatte, wenn sie sie besuchte. Eine Vase organisieren. Mit Wasser füllen. Die Blumen arrangieren. Das Wasser wechseln. Ein trockenes Blatt abzupfen. Die Vase vom Tisch am Fenster auf den Rolltisch neben dem Krankenhausbett stellen und wieder zurück.
Cornelia betrachtet die Blumen. Es ist leichter sie zu betrachten, als die Frau in dem Bett.
Ihre Mutter ist tot. Gestorben, als Cornelia vielleicht gerade ihren zweiten Kaffee trank oder sich die Zähne putzte oder die Fahrkarte für den Bus löste. Dass sie zu spät sein würde, erfuhr sie erst, als sie fast im Krankenhaus angekommen war. Sie haben angerufen. Auf ihr Handy.
Ihre Mutter ist gestorben – und niemand war bei ihr. Allein. In einem fremden Bett, ohne dass jemand ihre Hand gehalten hätte.
Sie spürt ein Brennen in den Augen, das sie begleitet, seit sie das Krankenhaus betreten hat. Sie will nicht heulen. Wenn sie nur eine Träne zuließe, wäre der Damm gebrochen, sie würde nie wieder aufhören können. Man würde sie hierbehalten. Intensivstation.
Gibt es ein Mittel gegen Trauer?
Es klopft. Katharina hat Klaus mitgebracht. Die beiden betreten den Raum, nicken ihr zu, sagen kein Wort. Cornelia ist froh darüber. Die üblichen Floskeln zur Begrüßung taugen nichts. Im Tod herrscht Schweigen. Dabei ist es nicht still. Draußen auf dem Gang kann sie die Stimmen der Schwestern vernehmen. Und das Geklapper, wenn ein Tablett vom Wagen genommen wird, nebenan klopft es an die Tür, das Mittagessen wird verteilt.
Ihre Mutter hat nicht mehr gegessen. Keinen einzigen Löffel selbst gestampften Kartoffelbrei, keinen geriebenen Apfel, keine Hühnerbrühe. Früher gehörten diese Speisen zu den Zaubermitteln, die besser als jedes Medikament Krankheiten und Missstimmungen heilen konnten. So wie ihre Mutter sie damit aufgepäppelt hatte, als sie ein Kind war, so bereitete Cornelia sie nun für ihre Mutter zu, packte das Essen in kleine Plastikschälchen und nahm sie mit ins Krankenhaus. Ihre Mutter war entweder nicht mehr in der Lage, den Mund zu öffnen, um zu essen, oder sie weigerte sich, es zu tun. Cornelia brachte den Löffel nur bis an die schmalen Lippen, die ihre Mutter fest verschlossen hielt.
Ihre Schwestern wissen nicht, wie sehr Cornelia sich um ihre Mutter bemüht hat. Kein einziges Mal haben sie sich abgesprochen, wer wann zu ihr ins Krankenhaus fährt. Cornelia weiß nicht, ob Katharina überhaupt die Zeit gefunden hat, ihre Mutter in den letzten Tagen zu besuchen. Jetzt stehen sie hier, jede an einer Seite, in der Mitte die tote Mutter. Cornelia spürt, wie die Gegenwart ihrer Schwester von dem Raum Besitz ergreift. Katharina benötigt dazu keine Worte. Ihr intensiver Blick, die leicht verschmierte Mascara unter den Augen, ihre übertrieben aufrechte Haltung – sie macht jede Begegnung zu einem Kammerspiel, in dem sie die Hauptrolle an sich reißt.
Klaus bleibt an der Wand und betrachtet die Szene. Er ist Regisseur in einem kleinen Provinztheater, das sich gerade so über Wasser halten kann. Katharina hat sich nach dem Abitur gegen die Kunst und für die Karriere entschieden. Ihre Praxis läuft hervorragend. Es ist, als biete sie die Formel der ewigen Jugend feil, dabei sind es doch nur Spritzen und teure Cremes, die ein oder andere Straffung. Sie sieht blendend aus, auf keinen Fall wie Mitte fünfzig. Seitdem sie Vierzig ist, altert sie nicht mehr. Sie ist ihr bestes Aushängeschild.
Cornelia macht sich aus all dem nichts. Im Herzen fühlt sie sich wie ein Teenager. Die unreine Haut ist zwar längst Vergangenheit, aber die Unsicherheit ist immer noch da. Am Totenbett ihrer Mutter ist sie wieder das Kind, die Nachzüglerin, das Nesthäkchen, das zu den anderen aufschaut, damit sie es an die Hand nehmen.
„Wo ist Iris?“, fragt Katharina.
Wie aufs Stichwort betritt Iris die Bühne. Iris ist zwei Jahre jünger als Katharina und zehn Jahre älter als Cornelia. Iris buhlt nicht um die ewige Jugend, hat sie nie. Ihre Biographie steht ihr ins Gesicht geschrieben: sie hat gefeiert, getrunken, geraucht, gekifft, zwei Scheidungen und eine lange Zeit als alleinerziehende Mutter hinter sich. Cornelia beneidet sie. Sie hat sich die Freiheit genommen, Fehler zu machen.
Und dann sind da noch ihre Töchter Becca und Claire. Etwas unsicher treten sie an das Totenbett ihrer Großmutter, zwängen sich rechts und links an Katharina vorbei, die nicht zur Seite tritt. Die beiden weinen. Ohne Scham überlassen sie sich ihrer Trauer.
Cornelia richtet den Blick wieder starr auf die Blumen. Konzentriere dich, ermahnt sie sich. Das ist wie beim Autogenen Training. Sich ganz auf eine Sache fokussieren, alles andere loslassen – nur dass es ihr heute nicht gelingen möchte.
Es müssen doch auch Entscheidungen getroffen werden – aber welche?
„Wer hat das Fenster geschlossen?“ In Iris Stimme schwingt ein Vorwurf mit. „Ihre Seele muss den Raum verlassen können.“
An einem anderen Ort und unter anderen Umständen hätten alle Anwesenden die Existenz einer Seele zwar nicht bestritten, aber vielleicht in Frage gestellt, inwieweit die Seele ohne den Körper existieren kann. Verlässt die Seele den Körper? Auf welchem Weg? Und spielen geöffnete Fenster dabei wirklich eine Rolle? Heute tun alle so, als wäre es wissenschaftlich bewiesen, dass die Seele erst aus dem Körper aufsteigt und dann durch das Fenster entweicht. Wie ein unsichtbares Gas, denkt Cornelia und beeilt sich, das Fenster zu öffnen.
Iris übernimmt den frei gewordenen Platz an der Seite des Bettes und legt ihre Hand auf die ihrer Mutter. Cornelia bleibt, wo sie ist und lehnt an der Fensterbank. Weggegangen, Platz vergangen.
Die Februarluft strömt ins Zimmer, feucht und schwer. Eine Sehnsucht nach Frühling überfällt sie. Nach Sandalen und Erdbeereis, den Duft von Flieder und Apfelblüten.
„Mir ist kalt“, sagt Katharina. Der Ring ist eröffnet. Katharina passt es ganz und gar nicht, dass Iris das Heft des Handelns an sich reißt.
„Musst du immer die Prinzessin auf der Erbse spielen?“
„Schön, dass du wenigsten zum Lüften vorbeigekommen bist“, stichelt Katharina, „hast dich ja sonst nicht gekümmert. Vermutlich hattest du keine Ahnung, wie es um sie stand.“
Cornelia verschränkt die Arme vor der Brust und lehnt sich noch etwas weiter zurück. Durch ihren dünnen Pullover spürt sie die kalte Fensterscheibe. Sie kennt das Spiel, das ihre Schwestern spielen, wann immer sie sich treffen.
„Die Klinik hat gestern Abend bei mir angerufen.“ Iris lässt die Worte wirken. Sie Verfehlen ihr Ziel nicht. Katharinas Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen. „Warum haben sie dich angerufen?“
„Sie haben gesagt, es gehe zu Ende. Wir haben unsere Sachen gepackt und sind losgefahren, heute morgen um sieben waren wir hier. Wir saßen an ihrem Bett. Wir hielten ihre Hand.“
„Warum hat man dich angerufen und nicht mich?“ Man hatte sie, die Ärztin, übergangen? Katharina kann es kaum fassen. „Warum hast du nichts gesagt?“
Iris zuckt mit den Schultern. „Ich dachte, ihr wüsstet Bescheid. Ihr seid doch immer hier gewesen.“
„Du hättest trotzdem anrufen können“, meldet sich Cornelia.
„Ich habe oft mit Mama telefoniert und auch mit Frau Dr. Schuler. Ich habe darum gebeten, mich sofort anzurufen, wenn ihr Zustand sich verschlechtert und meine Nummer hinterlegt.“
„Meine Nummer haben die auch!“ Katharinas Stimme klettert eine Oktave höher. „Schließlich bin ich Ärztin.“
„Dermatologin.“ Iris schenkt ihr ein mitleidiges Lächeln. „Hyaluron hilft nicht gegen das Sterben.“
„Im Gegensatz zu dir habe ich mich mit Annegret Schuler regelmäßig über die Medikation ausgetauscht. Ich war auf dem Laufenden.“
„Aber ich saß hier, als es darauf ankam.“
Die frische Luft hat nicht nur die Temperatur sinken lassen. Die Stimmung der beiden Streithähne erreicht ihren Gefrierpunkt.
„Ist das ein Wettbewerb?“ Cornelia verlässt ihren Fensterplatz. „Hört auf, bitte!“ Sie steht jetzt am Fußende. Wie ein Schiedsrichter, kommt sie sich vor, aber einer, auf den niemand hört.
Becca und Claire schniefen in ihre Taschentücher. Ihre Augen sind rot und verquollen. Klaus reicht ihnen eine neue Packung.
„Wollt Ihr nicht unten in der Cafeteria einen Tee trinken?“, fragt Iris ihre Töchter.
„Du könntest sie begleiten“, wendet sich Katharina an ihren Mann.
Die drei gehorchen. Kaum schließt sich die Tür hinter ihnen, fragt Katharina:
„Und? Hast du mit ihr auch über das Ende gesprochen? Ich meine, was war ihr letzter Wille?“
„Zu sterben.“
„Niemand will mit 75 sterben.“
„Sie hatte Krebs.“
„Sie ist an einer Lungenentzündung gestorben.“
„Weil ihr Körper zu schwach war, um sich dagegen zu wehren, weil sie Krebs hatte.“
„Wer kann das wissen? Sie war zäh. Hätte sie es bis in den März geschafft, ich bin sicher, sie hätte sich erholt.“
„Bis zur nächsten Chemo.“
Katharina schüttelt den Kopf. „Du bist unbelehrbar.“
„Könnt Ihr das mal lassen?“ Cornelias Stimme ist dünn. „Wie geht es denn jetzt weiter?“
„Hast du mit ihr über ihre Beerdigung gesprochen?“ Beide – Katharina und Iris – sehen Cornelia kann.
„Ich?“
„Also nicht? Kein Wort? Nicht einmal eine Andeutung?“, fragt Katharina.
„Wie stand sie zur Feuerbestattung?“, will Iris wissen.
„Vielleicht möchte sie unter einem Baum begraben sein“, sagt Katharina, „Mama war so naturverbunden. Und ihre Liebe zum Garten. Ich finde das sehr angemessen. Bei uns ganz in der Nähe gibt es einen Friedwald.“
„Auf keinen Fall“, widerspricht Iris, „ich nehme mal an, dass sie neben unserem Vater liegen will.“
„Aber fragen kannst du sie leider nicht mehr.“
„Hat keine von euch mit ihr über das Ende gesprochen?“, fragt Katharina und ihre Augen füllen sich mit Tränen.
„Hast du es denn?“
Katharina kramt ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und tupft sich damit die Wange trocken.
„Ich gehe jetzt und rufe einen Bestatter an.“
„Und ich frage im Schwesternzimmer, wie lange sie hier noch liegen darf“, sagt Iris, „die brauchen doch bestimmt das Bett, wundert mich, dass noch niemand Druck gemacht hat.“
Cornelia sieht den beiden nach. Die Tür schließt sich hinter ihnen. Vor zehn Tagen hat ihre Mutter dieses Zimmer betreten und das Bett mit der cremefarbenen Bettwäsche bezogen. Hat sie geahnt, wie ernst es um sie steht? Hat sie sich ausgemalt, was sie am Ende ihres Aufenthalts erwartet? Dass fremde Menschen ihren Körper auf einer Liege hinausfahren, in einen Fahrstuhl schieben und in den Keller verfrachten?
Dort zwischen Heizungsraum und Wäscherei gibt es einen Raum für die Toten, eher eine Kammer, bis der Bestatter kommt und sie holt.
Cornelia möchte nicht in den Keller. Sie schlägt die Bettdecke zurück und legt sich neben ihre Mutter. Ihr Körper ist kalt. Sie hätte das Fenster nicht aufmachen sollen. Sie deckt sie beide zu und hält ihre Mutter fest umschlungen.
Vielleicht kann sie sie etwas wärmen?