Ich weiß, Corona Corona Corona … kann das noch irgendwer hören? – – Aber wie, wenn nicht schreibend, lässt sich so eine Krise für eine Autorin verarbeiten? Eine ziemlich wahre Geschichte aus dem Alltag einer Notaufnahme:
Morgenrot
„Ich bin Oskar Morgenrot. 99 Jahre alt. Ich muss nach Hause zu meiner Frau. Meine Frau ist schon 98 Jahre alt.“
Eine Krankenschwester geht an ihm vorbei. Ohne stehenzubleiben, sagt sie: „Herr Morgenrot, der Mundschutz kommt vor Mund und Nase.“
„Ich will hier nicht sterben.“
Zwei Sanitäter schieben einen Patienten herein. Ein Pfleger und eine Krankenschwester schwärmen aus, flankieren den Tross und dirigieren ihn den Gang entlang, an Herrn Morgenrot vorbei, in den nächsten freien Raum. Die Wände sind gekachelt. Kein Badezimmerweiß, eher ein blasses Schwimmbadblau.
Vor diesem Hintergrund wuselt das Personal in grünen und blauen Schürzen wie Guppys in einem Aquarium. Nur dass sich ihr Interesse nicht auf den nächsten Brocken Futter richtet, sondern auf den nächsten Notfall.
Alle Zimmer belegt. Auf dem Gang stehen Liegen, auf denen Patienten stöhnen, dösen und warten. Der Flur ist ein Nadelöhr, durch das hier jeder muss. Der Rest des Krankenhauses ist zur Zeit ein Hochsicherheitstrakt.
Zweimal Bauchschmerzen, einmal Blinddarm, einmal Gallensteine. Ein verdrehter Knöchel. Husten. Verdacht auf eine Covid-19 Infektion. Thoraxschmerz. Ein Kardiologe eilt herbei.
Dazwischen sitzt Oskar Morgenrot. Man hat ihn in einen Rollstuhl gesetzt. Mit den Füßen schiebt er sich immer weiter den Gang hinauf. „Wo sind denn alle?“
Suchend schaut er sich um. „Ich gehe jetzt.“
Oskar Morgenrot versucht sich aus dem Stuhl aufzurichten. Es gelingt ihm nicht. Er braucht Hilfe. Nur ein klein wenig Stütze. Wo ist sein Stock?
„Schwester!“, ruft er.
Der Coronaverdachtsfall wird in einen der hinteren Räume verlegt. Man wartet noch auf das Testergebnis.
Aus dem Nichts taucht eine Krankenschwester auf. „Sie müssen die Maske aufsetzen“, sagt sie streng und zieht sie Oskar Morgenrot bis über die Nase.
Er schreit. „Ich kriege darunter keine Luft!“
„Atmen Sie bitte ganz normal weiter.“
„Ich will hier nicht sterben. Ich muss nach Hause zu meiner Frau. Sie ist schon 98 Jahre alt.“
Die Schwester lässt sich auf keine Diskussionen ein. Sie schaut kurz auf ihr Klemmbrett und eilt weiter.
„Mein Frau wartet auf mich“, brüllt Oskar Morgenrot, „Sie dusselige Kuh!“
Er reißt sich die Maske vom Gesicht.
Der Gallensteinpatient, der schräg gegenüber auf seine Behandlung wartet, richtet sich etwas auf.
„Herr Morgenrot“, er bemüht sich sehr ruhig und sehr freundlich zu sprechen. „Wir müssen leider alle noch warten. Ich habe Schmerzen und ich liege hier schon seit drei Stunden und nichts passiert. Aber es hilft doch nichts.“
„Ich habe doch gar nichts“, sagt Oskar Morgenrot, „ich weiß nicht, warum ich hier bin. Ich gehe jetzt. Bitte rufen Sie mir ein Taxi. Ich muss nach Hause. Meine Frau wartet. Sie ist 98 Jahre alte. Ich bin 99.“
„Das ist ein hohes Alter. Ich wünsche mir, dass ich auch mal so alt werde.“
„Das ist hart, so alt zu werden. Das schafft nicht jeder. Ich will hier nicht sterben. Heute.“
„Ich glaube nicht, dass Sie heute sterben.“
„Meine Frau ist allein. Sie wartet.“
„Soll ich sie anrufen?“ Er hält sein Handy in die Luft.
„Haben Sie eine Nummer für mich?“
„Ja, Telefon haben wir.“
„Und die Nummer?“
„Wir wohnen im Wedding.“
„Und Ihre Telefonnummer?“
„Irgendetwas mit 345.“
„Stehen Sie im Telefonbuch?“
„Rufen Sie ein Taxi.“
„Ich finde Sie leider im Telefonbuch nicht.“
„Ich will nach Hause.“
„Haben Sie Kinder? Vielleicht kann ich die erreichen?“
„Natürlich habe ich Kinder.“
Der Gallensteinpatient legt sich erschöpft zurück in sein Kissen.
Durch die Schleuse wird der nächste Notfallpatient geliefert. „Fieber?“, fragt die Schwester. Der Sanitäter nickt. „Dann gleich durch. Hinten rechts. Wir isolieren ihn erst einmal.“
„Bleiben Sie doch stehen!“, ruft Oskar Morgenrot.
„Herr Morgenrot“, fleht der Gallensteinpatient, „bitte, beruhigen Sie sich. Möchten Sie ein Glas Wasser?“
Oskar Morgenrot dreht seinen Rollstuhl so, dass er den Gallensteinpatienten in Augenschein nehmen kann. „Ich habe fürchterlichen Durst“, sagt er.
Der Gallensteinpatient quält sich von der Liege. Vor der Säule steht ein Wasserbehälter. Er füllt einen Becher und reicht ihn Herrn Morgenrot.
„Sie sind ein anständiger Mensch“, sagt Oskar Morgenrot und trinkt den Becher in einem Zug aus. „Meine Frau ist 98 Jahre alt. Sie wartet auf mich“, jammert er.
„Dann sind Sie sicher schon sehr lange verheiratet.“
„Das können Sie aber glauben, mein Lieber!“
„Das finde ich wunderbar. Wer schafft das schon, so viele Jahre mit einer Frau …“
„Schwer ist das“, sagt Oskar Morgenrot. Und es ist nicht ganz klar, ob er damit die Ehe meint oder die Situation, in der er sich gerade befindet.
„Meine Freundin meldet sich nicht“, erzählt der Gallensteinpatient, „wir sind seit drei Jahren zusammen. Ich habe ihr heute Mittag eine Whatsapp geschickt, dass ich im Krankenhaus bin. Sie hat noch nicht geantwortet. Nicht geschrieben. Keine Sprachnachricht. Ich habe angerufen. Mailbox.“
Oskar Morgenrot sieht ihn an und schweigt.
„Ist das zu viel verlangt? Eine kurze Nachricht. Wie geht’s? Was ist passiert?“
„Nichts ist passiert“, erklärt Oskar Morgenrot. „Diese dusselige Schwester vom Pflegedienst hat mir das eingebrockt. Ich habe doch gar nichts. Ich bin alt. Wissen Sie wie alt ich bin?“
Der Galleinsteinpatient nickt müde.
„Ich bin 99 Jahre alt“, fährt Oskar Morgenrot fort, „meine Frau ist 98. Sie wartet auf mich. Sie macht sich doch Sorgen.“
Eine Traube an grünen Schürzen eilt vorbei.
„He“, ruft der Gallensteinpatient ihnen hinterher. „Könnten Sie sich mal um diesen Herrn hier kümmern? Er hatte Durst und ich habe ihm Wasser gegeben. Er wartet schon sehr lange.“
Die Ansprache wirkt. Der Tross bleibt stehen. „Sie dürfen hier niemandem etwas zu trinken geben! Sie wissen doch gar nichts über diesen Herrn! Und wenn er gar kein Wasser trinken darf?“
„Warum sollte er kein Wasser dürfen?“
„Das diskutiere ich nicht mit Ihnen.“
„Ich finde es nur unverschämt, wie Sie hier mit Patienten umgehen!“
„Legen Sie sich bitte wieder hin und mäßigen Sie Ihren Ton!“
„Dann fangen Sie doch damit an! Das ist doch keine Art, mit Patienten umzugehen!“ Der Gallensteinpatient kommt ihn Fahrt. „Auch ich liege hier schon seit Stunden und habe Schmerzen. Wo bleibt denn der Arzt, der längst bei mir sein sollte? Und dieser Herr hier“, er deutet auf Oskar Morgenrot, „der wird einfach ignoriert. Niemand spricht mit ihm.“
„Ich bin Ihre Ärztin. Und ich bin in ungefähr zwanzig Minuten bei Ihnen. Sie sehen doch, was hier los ist. Sie beide sind nicht die einzigen. Und Herr Morgenrot kommt auch noch dran, vielleicht sogar noch vor Ihnen.“ Ihr Blick fällt auf den kleinen, in sich zusammengesackten Herrn im Rollstuhl. „Wo ist ihr Mundschutz?“, fragt sie Oskar Morgenrot.
„Ich will hier nicht sterben“, bettelt er wie ein kleines Kind, das keine bittere Medizin schlucken möchte.
Die Ärztin schüttelt den Kopf und verdreht die Augen. „Und jetzt beruhigen Sie sich, bitte. Wir tun wirklich, was wir können. Sie werden nicht sterben.“ Sie dreht sich um und die anderen folgen ihr ins Zimmer des Blinddarmpatienten.
„Warum darf ich nicht gehen?“, ruft Oskar Morgenrot der Ärztin hinterher.
„Verklagen müsste man die“, brummelt der Gallensteinpatient und hält sich die Seite. Er zieht eine Grimasse. „Mist! Ich muss mich wieder hinlegen, Herr Morgenrot.“
„Rufen Sie mir ein Taxi?“
„Sie dürfen nicht gehen.“
„Ich bin ein freier Mensch!“, brüllt Oskar Morgenrot, dass es auch der fiebrige Covid-19-Patient im hinteren Teil der Klinik noch hören kann.
„Ich gehe jetzt!“ Er beugt sich nach vorn. Mit all seiner Kraft stemmt er sich gegen die Armstütze des Rollstuhls. Der Rollstuhl rutscht weg. Oskar Morgenrot fällt zurück in den Sitz. Er ist den Tränen nahe.
„Dann sterbe ich eben hier“, sagt er trotzig. „Dann müssen Sie sehen, wie Sie mich hier rausschaffen!“
Der Gallensteinpatient stöhnt. Es fühlt sich an, als schlüge ihm jemand mit dem Hammer in die Seite. Der Schmerz schwappt bis in die letzte Faser seines Körpers.
„So, Herr Morgenrot“, sagt die Ärztin, „dann wollen wir mal schauen.“
Die Schwester reicht ihr das Klemmbrett mit den Unterlagen. Die Ärztin überfliegt die Angaben und nickt.
„Ich bin 99 Jahre alt. Ich will nach Hause. Meine Frau …“
„Sie müssen seine Frau anrufen“, stöhnt der Gallensteinpatient.
„Er ist Witwer“, flüstert die Krankenschwester.
„Ich bin gesund. Lassen Sie mich gehen“, fleht Oskar Morgenrot.
„Der Pflegedienst hat sie eingewiesen, weil sie gestürzt sind. Wir sollen uns ihr Bein ansehen. Es ist das rechte, nicht wahr?“
„Meine Beine sind völlig in Ordnung, Schwester! Ich bin 99 Jahre alt und ich will hier nicht sterben.“
„Herr Morgenrot“, sagt die Ärztin, „heute sterben Sie nicht, versprochen.“ Sie zieht im den Mundschutz wieder über die Nase. Dann schiebt sie ihn in eins der frei gewordenen Behandlungszimmer. Bevor sich die Tür hinter ihm schließt, reißt sich Oskar Morgenrot den Mundschutz vom Gesicht und wirft ihn auf den Gang.
„Ich will nicht sterben!“