Scheiße bleibt Scheiße

Fragt mich bitte nicht, wie ich auf die Idee zu dieser Story kam … Dinge, über die sonst keiner spricht.

Scheiße bleibt Scheiße

Bernd starrt auf den Bildschirm. Rechts das Firmenlogo. Die feinen Linien eines aufsteigenden Kranichs. Sollte der Flügel mit den Zeichen der Headline abschließen? Nein. Etwas darüber hinaus. Er verschiebt das Logo Millimeter nach oben, zu weit, wieder etwas zurück, ein Stückchen nach rechts. Es gefällt ihm nicht. Der Kranich lenkt nur davon ab, dass die Überschrift zu seinem Artikel fade ist. Ihm fällt nichts ein. Dabei sitzt er schon den halben Tag daran. Er löscht die Zeile und tippt ein einziges Wort ein: Aufsteigen. Er lehnt sich zurück, betrachtet den Entwurf. Der Vogel. Die Firmenfarben. Ein petrolblauer Hintergrund mit kühlem Blaustich. Darauf eine weiße serifenlose Schrift, ohne Schnörkel und Haken. Das Wort: Aufsteigen. Ohne den Blick vom Bild zu lösen, greift er in die Tüte mit Gummibärchen. Leer. Er reibt sich die Augen. Dann eben nicht. Er seufzt leise.

Ein Untertitel muss her. Aufsteigen? Das kann alles und nichts bedeuten. Aufsteigen in den Himmel? Fliegen. Wegfliegen. Bei dem Gedanken wippt Bernd mit dem Schwingstuhl auf und ab. Weg. Fliegen.

Sackgasse. Wieder einmal. Er arbeitet nicht für eine Fluggesellschaft. Das Logo wird oft verwechselt, aber nein, sie verkaufen keine Flüge. Er blinzelt. Es fühlt sich an, als hätte sich eine lose Wimper in seinem Auge verfangen. Er reibt. Es brennt. Noch einmal blinzeln. Wird schon wieder.

Er löscht das Wort. Nun bleibt das Piktogramm eines Kranichs. Also noch einmal von vorn. Das Auge tränt. Er blinzelt wieder.

Also. Neues wagen. Er schreibt, lehnt sich zurück, betrachtet die beiden Worte. Neues wagen. Aufsteigen! Er löscht das Ausrufezeichen. Ausrufezeichen sind wie ein Schlag ins Gesicht. Tu es! Jetzt! Das ist zu plakativ.

Eine Email ploppt auf. Carsten sendet die aktualisierte Preisliste. Das Premiumangebot ist für zehn Tage reduziert – änderst du das bitte, fragt Carsten, heute noch? Und schickst du es mir dann? – –

Bernd fühlt den Nachdruck, der in Carstens Formulierungen steckt. Statt der als Bitte kaschierten Anweisung hätte auch ein Eklamationszeichen stehen können. Heute noch!

Bernd weiß, dass das neue Layout bis heute fertig sein sollte. Er wusste es. Doch er hasst Erinnerungen. Ein schmerzhaftes Ziehen durchfährt seine Eingeweide. Er braucht eine Pause. Außerdem muss er auf die Toilette. Bernd vermeidet es, im Büro aufs Klo zu gehen, also richtig aufs Klo zu gehen, nicht bloß zu pinkeln. Pinkeln geht immer und überall. Aber es gibt Sachen, die macht Bernd am liebsten zu Hause. Er lässt sich gern Zeit. Liest die neusten Nachrichten. Scrollt durch Facebook und Twitter. Beantwortet Emails. Nicht ohne Grund heißt es doch: das stille Örtchen.

Bernd schaut sich um. Miri und Karol arbeiten heute im Homeoffice. Mark und Sten sitzen gerade in einem Meeting. Bleiben Bernd, Eva und Torben. Eva telefoniert. Torben sieht kurz vom Rechner auf, als Bernd seinen Platz verlässt. Bernd lässt sich Zeit. Ohne Eile schlendert er über den graumelierten Büroteppich. Er könnte genauso gut auf dem Weg zur Kaffeemaschine sein. Einen doppelten Espresso gegen das Mittagstief?

Vielleicht, aber erst noch einen Abstecher in den Gemeinschaftswaschraum. Langsam spürt er, dass der Druck größer wird. Auch wenn er es sich noch so sehr wünschte – er könnte gar nicht bis nach Büroschluss warten.

Der weiß gekachelte Gemeinschaftswaschraum ist zweckmäßig. Nichts lädt hier zum Verweilen ein. Zwei Toilettenkabinen, zwei Waschbecken, ein Spender mit Papiertaschentüchern, die sich wie Schmirgelpapier anfühlen. Kein Tageslicht. Dafür brummt eine Lüftung, wenn man das Licht einschaltet. Penetranter Lavendelduft überdeckt den scharfen Putzmittelgeruch. Das ist Eva zu verdanken. Sie hat überall Duftsteine aufgestellt. Bernd kann dem nichts abgewinnen. Für ihn riecht es wie die selbstgenähten Blütensäckchen, die seine Mutter zwischen die Winterkleidung legte. Eine Motte meidet angeblich das Zeug. Kluges Tier. Nur der Homo Sapiens schreckt davor nicht zurück.

Bernd deckt den Klobrillenrand üppig mit Papier ab. Das fühlt sich rau unter seinem Hintern an. Er rutscht sich etwas zu recht. Und dann geht es auch schon los. Kein schnelles Herausspritzen und Hineinplatschern. Er muss sich anstrengen. Da sitzt etwas fest, klopft etwas an, will etwas raus, aber zu welchem Preis? Zu viel Süßigkeiten, zu wenig getrunken, vom Kaffee mal abgesehen. Bernd müht sich ab. Er schließt die Augen. Er sieht den Kranich, wie er sich in die Luft erhebt. Schweiß tritt ihm auf die Stirn. Es ist zum Kotzen! Noch nicht einmal das kriegt er hin: sich zu erleichtern! Er ballt seine Hände zu Fäusten. Er spürt, wie es sehr langsam vorangeht. Wenn jetzt jemand die Tür aufmacht und die Kabine neben ihm aufsucht, ist er am Arsch. Dann bleibt er stecken. Was er braucht, sind Ruhe und Konzentration. Aber es gibt auch einen Punkt, da gibt es kein Zurück mehr – dann geht es nur nach vorn. Und mit einem Mal flutscht es wie von selbst.

Boah, denkt Bernd, und jetzt reißt du dich zusammen! Business as usual. Setz dich an das Dreckszeug und zieh es durch. Titel, Kranich, Bild, Preise, Buchungsbutton. Du forscht hier nicht an der Erfindung eines lebensrettenden Impfstoffs. So what?

Bernd spült.

Er will den Klodeckel herunterklappen. Da sieht er, dass das Klopapier weggespült wurde, aber die Kotwurst oben schwimmt. Er drückt noch einmal die Spülung. Das Ding schwimmt oben. Da ist nichts zu machen. Jetzt muss er warten, bis das Wasser wieder aufgefüllt ist. Vom Flur hört er Schritte. Jemand betritt den Waschraum. Die Tür neben ihm geht auf, wird geschlossen und verriegelt. Ein Reißverschluss. Und schon plätschert es hell in die Schüssel. Ein Stehpinkler. Torben. Bernd steht wie versteinert in der kleinen Toilette, die Stirn an der Wand gelehnt und traut sich kaum zu atmen. Wenn Torben jetzt einen Smalltalk über die Klotür anfängt, könnte Bernd ihn dann fragen, was man tut, wenn Kot nicht abgezogen wird?

Nebenan tröpfelt es nur noch. Das war’s. Torben verlässt eilig den Waschraum, ohne ein Wort und ohne sich die Hände gewaschen zu haben. Bevor er die Tür schließt, löscht er das Licht. Bernd steht im Dunkeln. Jetzt erst schlägt der Fäkalgeruch voll durch. Bernd zieht sein Handy aus der Hosentasche und aktiviert die Taschenlampe. Da schwimmt es. Ein tiefbraunes, gut definiertes Kotgebirge, das mit der Spitze aus dem Wasser ragt. Noch einmal spülen. Hilft es zu beten? Bernd geht in Gedanken seine Möglichkeiten durch. Er könnte noch ein paar Mal die Spülung betätigen. Zwischen den einzelnen Spülungen liegen etliche Minuten des Wartens, bis der Spülkasten wieder gefüllt ist. Wie lange soll er noch hier stehen?

Er könnte die Toilette verlassen und so tun, als wäre alles in bester Ordnung. Spätestens der nächste, vermutlich Eva, würde sich gehörig erschrecken bei dem Monsterhaufen in der Kloschüssel. Ganz abgesehen davon, dass man seine Kacke dann bereits bis ins Großraumbüro riechen konnte.

Er schwitzt und wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn. Dabei huscht der Lichtkegel über den Boden. Da liegt es etwas. Es ist lila. Beim Herausziehen seines Handys ist ihm ein Hundekotbeutel heruntergefallen. Seit sie die Labradorhündin Bonnie haben, fliegen diese Tütchen überall herum. Er bückt sich, um die Tüte aufzuheben und in den Müll zu werfen. Mitten in der Bewegung hält er inne. Er leuchtet wieder in die Kloschüssel.

Dann trifft er eine Entscheidung. Er stülpt sich den Hundekotbeutel über die Hand und greift ins Becken. Die Wurst entgleitet nach unten, er packt beherzter zu, zieht sie heraus und die Tüte oben zu. Etwas Kot hängt an seinem Handrücken. Er knotet den Beutel zu. Noch einmal spülen. Jetzt traut er sich aus der Kabine, schaltet das Licht an und wäscht sich die Hände. Der Lavendel überlässt dem Kotgeruch das Feld. Wohin mit der lila Stinkbombe? In den Abfall zu den Papierhandtüchern? Wer A sagt … scheiße!

Bernd verlässt den Waschraum. In der hohlen Hand hält er den warmen Kotbeutel. Torben steht an der Kaffeemaschine und füllt Bohnen nach. Eva telefoniert immer noch oder schon wieder.

An seinem Platz kramt Bernd im Rucksack nach der Brotdose. Sie ist leer, bis auf ein paar Krümel. Er packt den Kotbeutel in die Plastikdose. Der Deckel schnappt zu. Ein Grab für seine Hinterlassenschaft. Zu Hause wird er alles zusammen in die Mülltonne werfen. Hoffentlich vergisst er das nicht.

Er drückt eine Taste auf seiner Tastatur und der Kranich erscheint auf dem Bildschirm. Aufsteigen. Heute das Premiumangebot buchen.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s