Nicht heute

Es ist mal wieder Storyzeit aus dem Bereich:

Leben und Tod.

Wie sieht es mit deinen Nächten aus? Kannst du gut schlafen?

Nicht heute

Meine rechte Hand liegt auf meiner Brust. Dort, wo ich das Herz vermute, vielleicht etwas daneben, denn wenn der Schlag dieses geheimnisvollen Muskels gegen meine Handfläche pocht, dann beginnt mein Körper zu Kribbeln, eine Hitze breitet sich aus, mehr noch als jetzt. Jetzt sitzt sie nur in den Füßen, genau genommen im linken Fuß. Er fühlt sich heiß an, aber wenn ich ihn berühre, ist er kalt wie der andere. Es ist eine innere Hitze. Sie kommt, wann sie will. Sie hält mich vom Schlafen ab. Denn die Hitze im linken Fuß gepaart mit der der rechten Hand neben dem Herzmuskel, erzeugt eine innere Unruhe – oder ist Zeuge der bestehenden Unruhe, ich bin mir da nicht sicher, fest steht, diese Unruhe hält mich wach, oft über viele Stunden. Nach Mitternacht beginnt es. Ein Leiden, das mich besucht, wann es will, ein ungebetener Gast, ein Poltergeist, ein Albtraum ohne Traum, ein Schatten, der mich zudeckt, wie der Stein vor einer Gruft. Meine Gedanken sind darin gefangen, eingesperrt, sie laufen immer wieder gegen die Wand, aber sie ändern ihre Taktik nicht. Autogenes Training kommt nicht an. Das ist wie mit einem Funkloch. Wenn du keinen Empfang hast, kannst du keine Nachricht senden. Die Gruft meiner Gedanken ist abgeschirmt von den oberlehrerhaften Empfehlungen, die sich um Zwölf Uhr mittags über einem Online Artikel klug anhören.

Ich greife das Smartphone, das immer neben meinem Bett liegt und aktiviere ein Hörbuch. Guter Schlaf ist wichtig, sagt eine Stimme, die nach Sahnebonbons klingt und Federbettkissen. Schließen Sie die Augen und stellen Sie sich vor, dass Sie die Wolken beobachten, die über Ihrem Haupt ganz sacht vorbeiziehen. Sie sind wie weiße Pinseltupfe – leicht und schwerelos. Folgen Sie ihnen. Stellen Sie sich nun vor: Sie sind diese Wolke. Das Gewicht Ihres Körpers weicht der Schwerelosigkeit. Sie lassen los. Sie sind leicht wie eine Feder und treiben in einem Meer aus endlosem Blau.

Meine Augenlider zittern. Ich möchte keine Wolke sein. Vor allzu großer Höhe fürchte ich mich. Mein schlimmster Albtraum ist es, auf einem Felsen zu stehen und hinabzustürzen. Das Gefühl im Magen, als wäre dort ein Loch, und die Luft, die bläst durch mich hindurch, als wäre ich versehrt. Nur ein halber Mensch.

Ich öffne die Augen. Der Widerstand ist zu groß. Ich möchte nicht geisterhaft in andere Sphären treiben. Meinen Körper will ich wahrnehmen – so wie er ist, nicht wie ihn mir mein Geist vorgaukelt. Ich möchte das leichte Ziehen in den Waden spüren, weil ich am Vormittag seit langem mal wieder die große Runde durch den Wald gejoggt bin. Und wo ist das Echo der Sonne auf meiner Haut? Meine Hände haben Schwielen. Ich habe Blumen eingetopft und die Kübel auf der Terrasse neu angeordnet. Ich habe mir ein großes Stück Torte gegönnt und im Schatten der Haselnuss Kaffee getrunken. Das alles sollte ich in mir spüren und denken: Heute war ein schöner Sonntag. Er steckt noch in mir. Er klingt nach. Hundemüde müsste ich in die Kissen sinken – selig vor Glück. Denn der Tag war perfekt. Und bin doch beides nicht: weder müde noch glücklich.

Ich stoppe die Stimme des Hörbuchs, bevor wir den großen blauen Ozean erreichen. Ich kenne den Text in und auswendig. Ich könnte das Kapitel überspringen, dort einsteigen, wo jedes einzelne Körperglied schlafen geschickt wird. Aber ich bezweifle, das meine Gliedmaßen mir oder der sanften Stimme zuhören werden.

Heute nicht.

Wäre ich ein Computer, würde ich die Escape-Taste drücken. Ich würde das System herunterfahren, ganz gleich, welche Programme noch geöffnet sind. Und wenn ich gefragt werde, ob alle Fenster, die jetzt zwangsweise geschlossen werden, nach dem Hochfahren wieder angezeigt werden sollen, lautete die Antwort: Nein. Bloß nicht! Alles herunterfahren. Abschalten. – – Aber ich selbst kann meinen Körper nicht stoppen. Escape definiert er anders.

Wenn gar nichts mehr geht, knockt er mich aus. Dann kippe ich um. Liege am Boden, kann mich nicht mehr rühren. Meistens zittere ich wie Espenlaub, ich kann mich gar nicht mehr einkriegen. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Jemand hält meine Hand und versichert mir, dass alles – was auch immer mit „alles“ gemeint ist – er versichert, dass alles gut werden wird. Wenn das keine Wirkung zeigt, wählt er den Notruf. Notärzte üben auf mich eine beruhigende Wirkung aus. Wenn ich das Martinshorn höre und die eiligen Füße auf der Treppe, fällt mein Herz in seinen gewohnten Takt zurück.

Das ist mir unangenehm. Ich schäme mich dafür. Schäme mich, dass ich so schwach bin und hilflos. Dagegen kämpfe ich an. Keine Ahnung, warum es jetzt mal wieder soweit ist. Zum Äußersten möchte ich es nicht kommen lassen. Aber habe ich das wirklich in der Hand?

Ich schlage die Bettdecke zurück und stehe auf. Der kühle Holzboden unter meinen heißen Fußsohlen. Ich brauche Luft.

Wer reitet so spät noch durch Nacht und Wind.

Ich habe Angst. Der Erlkönig macht mir Angst. Immer schon. Als Schülerin waren mir die Zeilen unheimlich. Sind es noch. Und in meinen dunklen Stunden besucht er mich: der Erlkönig.

Da helfen keine Wolken und auch kein blauer Ozean. Ich ertrinke in meinen Gedanken und halte die Augen weit geöffnet, um die Schatten um mich herum im Auge zu behalten.

Ich reiße das Fenster auf. Es sind typische Altbaufenster. Doppelte. Dazwischen ist ein Hohlraum. Die Scheiben einfach verglast. Die Griffe uralt, blank, poliert von vielen Händen. Sie waren vor mir und werden nach mir sein.

Ich atme Luft, als hinge mein Leben davon ab, als wäre ich kurz vor dem Ersticken. So eng ist mir die Brust. Oder ist es der Hals, der sich zuschnürt? Sauge die kühle Nachtluft ein wie Raucher das Nikotin. So als wäre sie eine Droge, die mir ausgeht. Oder ein Medikament.

Doch die Unruhe lässt sich nicht vertreiben. Meinen Körper kann ich nicht auslüften. Frische Luft bringt nicht automatisch frische Gedanken.

Ich starre in die Dunkelheit, die keine ist. Nie wird es dunkel. Draußen auf der Straße brennen immer Lichter. Das ist tröstlich. Ich fühle mich weniger allein. Das ist wie das Nachtlicht, das früher brannte, wenn meine Eltern mich ins Bett gebracht haben. Nie dunkel. Immer ein schwacher roter Lichtschein. Wenn ich nachts wach wurde, bin ich aufgestanden und dem kleinen Licht zur Tür gefolgt, habe mich über den schmalen Flur getastet und bin ins Bett meiner Eltern geschlüpft. Ihre Zimmertür stand immer weit offen.

Ich habe keinen Ort, an den ich fliehen könnte. Fliehen? Fliehen vor mir selbst? Fliehen vor dem Erlkönig?

Dass es überall künstlich blink, nervt mich. Rollläden gibt es nicht. Ich wende mich ab. Noch ist es nicht soweit. Ich muss niemanden wecken, der mir die Hand hält oder telefoniert. Also tigere ich durch die Wohnung. Wenn ich mich bewege, verschwende ich Energie und werde irgendwann ruhiger, vielleicht. Ich schreite die Wohnung ab. Vermesse sie in Gänsefüßen. Meine Augenlider schmerzen. Sie sehnen sich nach Schlaf. Aber der Rest meines Körpers läuft immer noch hochtourig.

Mein Herz ist das Problem. Ganz bestimmt. Und wenn ich jetzt hier auf den Boden schlage? Dieses Mal ist es sicher kein Warnschuss – es ist der Ernstfall.

Wenn ich sterbe?

Nicht heute.

Von draußen dringt das frühmorgendliche Zwitschern der Vögel herein, als hätte ich ein Tonband eingelegt. Lautes Tschilpen und Tirilieren schraubt sich in die Höhe und beginnt von vorn. Die Töne klingen genauso übersteigert wie mein Herzschlag, der meinen Körper weiter durch die Wohnung treibt.

Bald geht die Sonne auf. Bestimmt. Das Licht kommt zurück und mein Herz beruhigt sich. So wird es sein.

Irgendwann sterbe ich.

Aber nicht heute.

Vor Erschöpfung sinke ich in einen Sessel, ziehe die nackten Beine an, umschlinge meine Knie. Und warte. Als ich die Augen aufschlage, liegt das Zimmer im hellen Sonnenschein des Morgens.

Ich dusche, lege etwas mehr Make-Up auf und kaschiere die Augenringe, greife meinen Kaffeebecher to go. Fast bin ich aus der Tür, als er mir hinterruft: „Was war heute Nacht los?“

„Nichts.“

„Hast du schlecht geschlafen?“

„Nein. Alles gut. Bis heute Abend.“

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