Endlich wieder eine neue Story – frisch aus der Geschichtenschmiede! Und vom Beitragsfoto bleibe ich der Tierwelt treu (das ist ja nun schon eine richtige Serie: Fuchs – Hund- Kamel!)
Wüste
Für Amir ist es nicht das erste Mal. Aber es ist das erste Mal, dass er seinen Job verflucht. Seit fast zwanzig Jahren arbeitet er für die Hausverwaltung. Er selbst wohnt Paterre. 55 Quadratmeter. Früher lebten sie zu sechst verteilt auf zwei Zimmer, Küche, Bad. Schöne Zeiten waren das. Der Duft von Zimt, Anis und Kümmel in der Luft, wenn Rana auf dem Herd Milchreis rührte, mit Nüssen und Rosinen. Esmas Lieder, ihre hellen Töne, die sie mit allerlei Schnörkeln und Verzierungen versah, dass es nie langweilig wurde, ihr zuzuhören. Dayas Lachen dazu und das Gezanke der Jungs. Seine Familie.
Aadil, Chakib und Daya sieht er nur selten. Seine Mutter Esma ist seit vielen Jahren tot. Rana hat er vor zehn Monaten verloren. Ein Gewächs in der rechten Brust, so groß wie ein Aprikosenkern. Und überall in ihrem Körper hat er seine todbringende Frucht verteilt. Am Ende ging es schnell. Nun ist Amir allein.
Geduld und Humor sind zwei Kamele, die dich durch jede Wüste bringen. Esmas Worte. Schon als Kind war es die Weisheit, die zu fast allen Lebenslagen zu passen schien. Geduld besitzt Amir wohl, aber der Humor ist ihm unterwegs verlorengegangen.
Eigentlich ist es zum Heulen – oder zum Schreien. Doch Amir erhebt seine Stimme selten. Und er ist sich nicht sicher, wen er beweinen soll: den Toten oder sich selbst? Die Einsamkeit, die er in Herr Neumanns Wohnung antrifft, lässt ihn zurücktaumeln. Es ist ein Abgrund, vor dem er strauchelt.
Amir ist allein, aber nicht so allein wie Herr Neumann es in den letzten Jahren seines Lebens gewesen sein muss. Wird er auch einmal so enden? Aadil hat noch keine Familie, aber er ist ausgezogen, wohnt nun in einem anderen Stadtteil. Sie haben kaum Kontakt. Amir nestelt am Saum seines grauen T-Shirts. Er besitzt es, so lange er denken kann. Es ist verwaschen und ausgeleiert. Langsam löst es sich auf. So ist das mit Aadil auch. Hin und wieder ein kurzes Telefonat. Er kann ihre Beziehung nicht flicken, Nadel und Faden helfen nicht gegen einen Sturkopf wie Aadil. Chakib lädt ihn regelmäßig ein. Die Kinder freuen sich, aber Amir möchte Susu, seiner Schwiegertochter nicht zur Last fallen. Daya, seine einzige Tochter, schneidet Haare. Sie hat drei kleine Kinder und einen Mann. Auf Daya kann er nicht zählen. Aber sollten nicht die Töchter im Alter für ihre Väter da sein?
Amir schreitet die Wohnung ab. Er steigt über den Müll, der auf dem Boden verteilt liegt. Dazwischen raschelt es. Klack klack klack. Schaben. Fett und braun wuseln sie zwischen den Sachen, die am Boden verteilt liegen, schießen unter Stuhlbeinen und Tischen hervor, um hinter einer hervorstehenden Fußleiste zu verschwinden. Er zieht sich das Shirt bis über die Nase, um den Gestank auf Abstand zu halten. Herr Neumann konnte den Notruf noch verständigen. Sollte er stürzen, dann, das hat er Amir selbst erzählt, wäre der Notrufknopf seine Rettung. Retten konnten ihn die Ärzte nicht mehr. Aber Herr Neumann war auch nicht gestürzt. In seinem Fernsehsessel sitzend erlitt er einen Infarkt. Bevor er das Bewusstsein verlor, betätigte er den Notruf. Als der Rettungswagen kam, war er tot. Trotzdem war dieser Notrufknopf ein Segen. Vor allem für Amir. Denn wenn Herr Neumann nun einfach gestorben wäre, ohne vorher noch auf sich aufmerksam zu machen, dann hätte es gedauert, bis man ihn gefunden hätte. Und vielleicht wäre Amir derjenige gewesen, dem diese Aufgabe zugefallen wäre: das Auffinden. Nun findet er bloß seine Hinterlassenschaften auf, was schwer genug ist, viel schwerer, als gedacht.
Herr Neumann war ein stiller Nachbar. Fast unsichtbar. Wenn er einkaufen ging, dann sehr früh morgens. Und was brauchte ein alter Mann schon? Er ging nicht oft einkaufen. Die Zeitung hatte er abonniert. An einem überfüllten Briefkasten hätte man erkennen können, dass etwas nicht stimmt, überlegt Amir. Nach einer Woche, also sechs Zeitungen, wäre es ihm sicher aufgefallen. Er hätte geklingelt. Neumann steht auf dem Türschild. Dann hätte er geklopft. Schließlich hätte er sich bei der Hausverwaltung die Erlaubnis eingeholt, die Tür zu öffnen. Mit seinem Schlüssel.
So aber war das alles gar nicht nötig gewesen. Herr Neumann konnte die Rettung verständigen, die seinen Tod bestätigten. Und nur wenig später wurde sein toter Körper von einem Bestatter abgeholt. Was dann mit ihm geschah, wohin er gebracht wurde, warum das alles so lange gedauert hat, bis die Hausverwaltung ihn informiert hat – Amir weiß es nicht. Aber er weiß, dass Herr Neumann noch nicht unter Erde ist, obwohl sie ihn vor zwei Wochen abgeholt haben. So etwas ist für Amir eine Anfechtung. Denn eigentlich gehören die Toten unverzüglich bestattet. Herr Neumann hat es nicht eilig, niemand hat es eilig. Eine städtische Beerdigung, ohne Angehörige. Verbrannt und irgendwann beigesetzt. Wie trostlos muss er sich das vorstellen? Aber ein Mensch stirbt, wie er gelebt hat.
In den letzten Wochen hielt Amir die eigenen Rollläden den ganzen Tag über verschlossen. Nachts zieht er sie hoch, reißt die Fenster auf, alle, und hofft auf einen kühlenden Luftzug. Ist das der Klimawandel, von dem alle reden? Oder besucht ihn das Wetter seiner Kindheit wie ein ferner Verwandter? – – Herr Neumanns Rollläden sind nur zur Hälfte heruntergelassen. Die Hitze hat leichtes Spiel. Amir steht der Schweiß auf der Stirn. Er kann kaum atmen. Er braucht Luft. Aber als er das erste Fenster öffnet, trifft er nur auf eine Wand aus Hitze und Feuchtigkeit.
Herr Neumann hat nie einen Vornamen für Amir gehabt. Warum auch? Neumann steht am Briefkasten. Das reicht. Damit war klar: Herr Neumann, dritter Strock rechts, zweite Tür von links, 55 Quadratmeter. Damit weiß Amir mehr über Herrn Neumann, als er wissen muss. Wie wenig das letztlich war und dass es zu wenig war, was er wusste, wird Amir klar, als er die Wohnung in Augenschein nimmt. Die Wohnung verwest vor sich hin. Es ist, als kompostiere sie, zersetze sich selbst. Hier sind Werke der Vergänglichkeit am Werk, die Amir die Kraft aus seinen Adern saugt. Gilb. Ein grauer Schleier, wohin er auch sieht. Die Gardinen hängen durch oder schief, sie sehen aus, als wären sie noch nie gewaschen worden. Rana hat ihn stets angehalten, bei der Hausarbeit zu helfen. Er stand auf der Leiter, sie nahm die Gardinen unten in Empfang, damit der Stoff nicht litt. Sie sind schön wie am ersten Tag, sagte sie, wenn sie aus der Maschine kamen. Heute macht er das ohne sie. Einmal hat er die Gardinen gewaschen, seit sie unter der Erde ist.
Die Tapete mit Flecken und Rändern an den Stellen, wo mal ein Bild hing oder ein Regal stand, das irgenwann verrückt worden ist. Tote Fliegen. Leere Verpackungen. Volle Verpackungen. Eine offene Dose Bockwürstchen. Auf der Brühe eine dicke grüne Schicht aus Schimmel. Eine halbvolle Ketchupflasche, eingetrocknete rote Flecken. Wie Blut, denkt Amir, dabei weiß er, dass Blut viel dunkler aussieht. Und der Ort, an dem der Tod seine Hand nach Herrn Neumann ausstreckte. Der Fernsehsessel steht weit vom Tisch weggerückt. Amir stellt sich vor, wie die Rettungskräfte um den Sessel herumstanden, wie sie den Puls nahmen und feststellten, dass da kein Leben mehr war. Wie sie ihn vielleicht versucht haben, zurückzuholen, in diese Welt. Sie haben ihn auf den Boden gelegt, zu den Krümeln, den benutzten Taschentüchern und alten Socken. Haben sich mit der Fußspitze etwas Platz gemacht, ein paar Dinge zur Seite geschoben und ihn lang ausgestreckt. Vergeblich. Amirs Blick fällt auf den niedrigen Coachtisch. Ein Teller mit zwei Broten. Es blieb ihm nicht einmal mehr Zeit für die Stulle, denkt Amir. Käse und Wurst. Das Wurstbrot ist halb aufgegessen. Der Käse glänzt und sieht aus wie ein Stück Plaste. Der Rest ist verschimmelt. Und wieder eine Kakerlake, die unter einem Teller hervorschießt.
Das Leben gleicht dem Feuer: Es beginnt mit Rauch und endet mit Asche; doch wie groß die Flamme ist entscheidest du.
Amir verlässt die Wohnung. Sein Blick fällt auf einen Stapel Post. Manfred Neumann. Amir seufzt. Manfred also. Er schließt hinter sich ab, zweimal dreht er den Schlüssel im Schloss, so wie er es immer tut. Dann steigt er die Stufen hinab. Zurück in seine Wohnung. Noch auf der Treppe zieht er sein Handy aus der Hosentasche und wählt Aadils Nummer. Nur seine Stimme. Das reicht, das reicht ihm schon. Für diesen Moment.