Dieses Buch wurde mir empfohlen und als außerordentlich angepriesen – hochgelobt auch im Feuilleton (Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung, Tageszeitung, Deutschlandfunk Kultur, Die Zeit, Frankfurter Rundschau … gibt es eine Zeitung, die dieses Buch nicht gut besprochen hat???). Ich habe mir daraufhin das Hörbuch gekauft, das wunderbar eingelesen wurde von Valery Tscheplanowa und Christian Brückner.
Vorweg: Ja, es ist ein gutes Buch. Thomas Hettche bedient sich einer wunderbaren, sehr geschliffenen Sprache und Rhetorik. Nicht ohne Grund handelt es sich um einen mit Preisen dekorierten Autor. Darüber hinaus hat er für seine Geschichte über den Werdegang der Augsburger Puppenkiste außerordentlich gut recherchiert. Und da komme ich auch schon zum einzigen Kritikpunkt, den ich habe: Wenn Autoren sich mit realen Personen und Ereignissen beschäftigen und darüber einen Roman verfassen, drängt sich mir oft der Eindruck einer „Fleißarbeit“ auf. Dies klingt negativer, als ich es meine. Denn gefallen hat mir das Buch. Aber ein ähnliches Gefühl überkam mich auch bei Büchern wie „Frida Kahlo und die Farben des Lebens“ oder „Das Haus der Frauen“. Der Anspruch ist hoch, der Stoff komplex, aber mir fällt es schwer, mit den Protagonisten „mitzufiebern“, wirklich bei einer Figur zu verweilen … Aber zurück. Erst einmal zum Inhalt.
Thomas Hettche erzählt hauptsächlich aus der Sicht von Hannelore Marschall, der Tochter von Walter Oehmichen, der das Augsburger Puppentheater ins Leben gerufen hat. Die Geschichte beginnt am Ende des 2. Weltkrieges und reicht bis in die 1950er Jahre, als die Augsburger Puppenkiste bundesweite Bekanntheit erlangte, nachdem sie vom Fernsehen entdeckt wurde. Kombiniert wird die Erzählung mit einer Rahmenhandlung, die in der Gegenwart spielt. Ein Mädchen verirrt sich nach einer Theatervorstellung auf einen Dachboden, trifft dort auf Marionetten wie Jim Knopf, Urmel und Kalle Wirsch und auch auf einen sehr gruseligen, fast dämonischen Kasper. Das Mädchen schrumpft selbst auf Marionettengröße und bekommt von Hannelores – Hatüs – Geist die Geschichte des Puppentheaters erzählt.
„Das Mädchen riss sich von der Hand seines Vaters weg und lief weg.“ So beginnt der Roman. Die erste Seite hat mich wirklich sofort in den Bann gezogen. Märchenhaft beginnt es. Kraftvoll. Fantasievoll. Und natürlich tiefsinnig: Es geht um Marionetten. Das Mädchen – aus Fleisch und Blut – reißt sich los, lässt sich nicht länger führen, um dann auf dem Dachboden auf die Marionetten zu treffen, die nicht an Fäden dirigiert werden, sondern ein Eigenleben führen. Dort wird sie ihnen ähnlich. Die Unterschiede und Zeiten verschwimmen … Eine wunderbare Idee.
Leider konnte die Rahmenhandlung mich nicht bis zum Ende halten. Im Gegensatz zur Geschichte um Hannelore/Hatü. Sie beginnt, als die junge Hatü den Bombenhagel auf die Stadt Augsburg im Luftschutzbunker erlebt. Ihr Werdegang in Verbindung mit ihrer Leidenschaft zu den Marionetten hat mich wesentlich mehr interessiert – gepackt. Die märchenhafte Dachbodengeschichte fand ich hingegen mehr und mehr konstruiert. Vielleicht bringe ich dafür nicht genug Puppenkisten-Nostalgiesehnsucht mit?
„Der Herzfaden ist der wichtigste Faden einer Marionette.“ Das gibt Walter Oehmichen seiner Tochter mit auf den Weg. Der Herzfaden macht uns glauben, die Puppe sei lebendig. Wie gelingt das? Weil er am Herz der Zuschauer festgemacht ist. Eine schöne Erklärung. Und Thomas Hettche hat uns am Faden unserer Kindheitserinnerungen. Viele trifft er damit ins Herz.
Was mir besonders gefallen hat?
Der dämonisch dreinblickende Kasperl. Die Figur des Kasperls – vorlaut, frech, altklug – habe ich als Kind auch nie gemocht!
Und: Thomas Hettche wurde mit Herzfaden für den deutschen Buchpreis nominiert und gehörte zu den fünf Finalist*innen. Gewonnen hat den Buchpreis 2020 Anne Weber mit „Annette, ein Heldinnenepos“.
Herrzfaden von Thomas Hettche, Kiepenheuer&Witsch; 10.09.2020; 288 Seiten
https://www.kiwi-verlag.de/buch/thomas-hettche-herzfaden-9783462052565
Der Roman macht Lust darauf, die Marionetten tanzen zu lassen: Bei Youtube findet man zum Glück viele alte Folgen der Augsburger Puppenkiste.