Der Fallmeister

Gekauft habe ich dieses Buch bei Uslar & Rai in der Schönhauser Allee in Berlin. Ein Laden, in den ich stets hineinschaue, wenn ich zum Frisör gehe, also viel zu selten, aber ich werde dort immer fündig. Als ich beim Bezahlen zugebe, dass dies mein erster Roman von Christoph Ransmayr sei, wurde ich bestaunt wie eine seltene Spezies. Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte … Christoph Ransmayr ist ein längst etablierter, hoch geachteter Autor nicht nur des Feuilletons, nein, er verkauft sich anscheinend auch. Bücher wie „Atlas eines ängstlichen Mannes“ und „Cox oder Der Lauf der Zeit“ sind Bestseller – nicht, dass ein Bestsellerrang das entscheidende Kriterium für Qualität darstellt. Aber hier geht offensichtlich Können und Kunst zusammen mit Beliebtheit und Verkaufszahlen.

Der Fallmeister ist nun mein erster Ransmayr.

Der Roman ist aus der Perspektive eines männlichen Ich-Erzählers geschrieben und umfasst eine Spanne zwischen Kindheit und Erwachsenenalter. Die Erzählstimme gehört dem Sohn des Schleusenwärters am Weißen Fluss. Dort sind Menschen in den Wasserkaskaden umgekommen. Ein Unglück, das hätte verhindert werden können. Der Schleusenwärter – oder Fallmeister – hat ihren Tod zu verantworten. Ein Jahr nach dem Unglück verschwindet er. Man nimmt an, dass er mit der Schuld nicht habe Leben können. Das – und die Tatsache, dass die Mutter die Familie verlassen hat, bestimmt das Leben des Ich-Erzählers und das seiner Schwester Mira.

„Alle Opfer meines Vaters hatten, wenn nicht in Sichtweite, so doch in Hörweite des Großen Falls gelebt. Sein Tosen war das Hintergrundrauschen auch meiner Kindheit und Jugend gewesen, und die Sand- und Schotterbänke in den Schluchten des Weißen Flusses gehörten zu jenen mit Legenden und Mythen verbundenen Spielplätzen, nach deren tiefgrüner, magischer Schönheit ich mich in meinen Arbeitsjahren an den Stauwerken der großen Ströme Afrikas, Südamerikas und Asiens immer wieder zurücksehnte: Libellen in allen Farben und Größen standen dort vor einem von Schluchträndern eingefaßten Sommerhimmel, als hätte das Glitzern des Wassers sie hypnotisiert und in einem nur im Schwebflug erreichbaren, sirrenden Frieden versetzt. Eisvögel saßen als zerbrechlicher Baumschmuck reglos auf ihren Jagdzweigen, bevor sie sich, wie von einer im Inneren ihres blau leuchtenden Federkleides zündenden Explosion aus der Erstarrung geschleudert, auf dich unter der Wasseroberfläche lauernde Glasfischchen stürzten, die dort ihrerseits auf Beute warteten.“

Wow, oder? Auch in anderen Rezensionen, die ich gelesen habe, werden die wortgewaltige Sprache und die Intensität der Bilder gepriesen. Für mich war lange nicht klar, in welcher Zeit der Roman spielt. Auf den ersten Seiten wirkte er für mich wie ein „Heimatroman“ mit einer Seen- und Bergkulisse, auch der Beruf des „Schleusenwärters“ erschien mir aus der Zeit gefallen. ENach und nach wird deutlich, dass die Handlung in einer Zukunft spielt, in der sich die Klimakrise zugespitzt hat, ja, in der die Welt, die wir kennen, nicht mehr existiert. Das Reisen ist schwierig geworden, man benötigt Seuchenpapiere und Transiterlaubnisse. Der Ich-Erzähler genießt Privilegien, denn er gehört zu den systemrelevanten (!) Hydrotechnikern. Es ist die Rede von Grafschaften, in die die Länder zerfallen sind, und von Deichgrafen, Aristokraten und dem „Syndikat“ als oberster Macht- und Schaltzentrale. Wie es dazu kam und wie man sich diese dystopische Zukunft nun genauer ausmalen kann, bleibt offen bzw. ist der eigenen Fantasie überlassen. Der Ich-Erzähler gewährt uns keinen Einblick in die Geschichte seiner Welt. Er setzt voraus, er kennt es nicht anders, muss nichts erklären. So erhalte ich als Leserin nur Bruchstücke, einzelne Puzzleteile. Am Ende bleiben viele Fragezeichen und Leerstellen.

Für mich übrigens ist „Der Fallmeister“ das Gegenstück (oder die Ergänzung?) zu Marie Lunde „Die Geschichte des Wassers“. Dort ist es das Fehlen des Wassers, das das Setting bestimmt. Und nicht nur der Gegensatz von Wasser und Dürre unterscheidet die beiden Romane. Marie Lunde führt aus – sie lässt mich teilhaben an den Schicksalen einzelner Personen, die das Potential haben, mir ans Herz zu wachsen, David und seine Tochter Lou zum Beispiel. Lunde braucht dafür doppelt so viele Seiten wie Ransmayr. Vielleicht ist es bei Ransmayr zu knapp, zu verdichtet, zu viele Chiffren auf zu wenig Raum?

„Daß die zerrissene Weite zwischen der Nordsee und der kontinentalen Mitte von kreuz und quer verlaufenden Grenzbalken verlegt war, die wie Mikadostäbchen oder wie die Baumstämme eines Windwurfs so gut wie jeden direkten Weg zerschnitten, machte Reisen zu kompletten Hindernisläufen, die manchmal schon kurz nach dem Aufbruch wieder an den Ausgangsort zurück oder einfach ins Nirgendwo einer kurzfristig verhängten Quarantäne führten.“ Ein wunderbarer Sprachfluss, der auch ins Nirgendwo führt …

Ein guter Stil ist wie ein Gewand, in das eine Geschichte gekleidet wird. Hinter all den schönen Worten und Sätzen muss mich aber auch die Erzählung in den Bann ziehen. In der Geschichte vom Fallmeister trieb ich lange wie Totholz auf dem Wasser und wusste nicht, wohin mich die Strömung führte. Für mich sind es am Ende zwei Tonspuren, die hier übereinanderliegen: Die eine erzählt vom Wasser in einer verstörenden Zukunft, die andere handelt von einer Familie, die von einem Unglück bestimmt wird, das Eltern und Kinder auf ganz unterschiedliche Wege führt. Hier werden u. a. Schuld, Verrat und übersteigerte Geschwisterliebe verhandelt. Die Familiengeschichte käme ganz ohne die Dystopie aus (oder?).

Mühsam habe ich mich durch den schmalen Band gearbeitet, immer in der Hoffnung, es entstünde ein Leseflow. Achtung, Spolier: Auch der Schluss .. na ja, dass der Vater nicht tot war, lag eigentlich von Anfang an auf der Hand.

Beim nächsten Frisörbesuch hole ich mir bei Uslar & Rai einen früheren Ransmayr und lasse mich gern überraschen, dass dieser dann ganz anders ist!

Ach so, noch etwas: Ich freue mich über Eure Kommentare. Belehrt mich gern eines Besseren. Schreibt, wie Euch der Fallmeister gefallen hat …

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