Zunächst dachte ich, der Roman „Der große Sommer“ von Ewald Arenz handle von längst vergangenen Zeiten. Von Friedrich, Johann und Alma war die Rede. Dann fiel das Wort „geil“ und ich dachte: Moment mal, wann spielt die Story? Und ab wann kam das Wort „geil“ in Mode? In den 1970er Jahren fand es wohl – laut Wikipedia – Eingang in die Jugendsprache und besaß noch die Konnotation von „erregt“ und „sexuell attraktiv“. In den 1980er Jahren wurde die Bedeutung dann weiter gefasst: „geil“ im Sinne von „cool“. Ich muss sagen, dass ich, die ich in den 1980er Jahren zur Schule gegangen bin, mich an das Aufkommen des Begriffs gut erinnere und Freundinnen es inflationär (bis heute) benutzen. Für mich war das Wort „geil“ nie „cool“, aber damit bin ich wohl eine Ausnahme.
Warum ich darauf so genau eingehe? Weil es für mich wirklich ein Stolperstein war. Wieder typisch, ich: Ich kaufe ein Buch, weil das Cover mich anspricht (das Cover ist einfach großartig!), dann beginne ich zu lesen oder – wie in diesem Fall – zu hören. Den Klappentext habe ich nur überflogen, viel lieber überlasse ich mich von Anfang an der Geschichte und ihrer Entwicklung. Wie gesagt: Für mich hätte der Roman nach den ersten Seiten auch in den 1940er Jahren spielen können. Dann fällt das Wort „geil“ und ich bin schlagartig ein paar Jahrzehnte nach vorn katapultiert. Später folgen weitere Hinweise auf die Zeit durch Anspielungen auf Hippies, Friedensbewegung und politische Bezüge – und die 1980er Jahre, in denen die Geschichte spielt, werden greifbarer. Die Vorstellung, dass der Protagonist irgendwie nicht in die Zeit passt bzw. ein viel älteres Ich mit sich trägt, hat sich für mich aber durchgezogen.
Der Plot
Für den Ich-Erzähler Friedrich (Frieder) Büchner ist es ein besonderer Sommer, ein Sommer, der sein Leben für immer verändert hat, wie er später, als erwachsener Mann, feststellt. Während der Rest der Familie in Urlaub fährt, muss Friedrich bei den Großeltern, der freundlichen und alterweisen Nana, und dem Großvater, dem strengen Herrn Professor, für die Nachprüfungen in der Schule lernen, um das Schuljahr nicht wiederholen zu müssen. Aber da ist auch Beate. Beate gefällt ihm auf Anhieb, als er sie in ihrem flaschengrünen Badeanzug im Freibad sieht. Er spricht sie an, sucht ihre Nähe, klaut ihr im Sommer Lebkuchen aus einer Lebkuchenfabrik. Ist er in Beate verliebt? Friedrich setzt alles daran, das herauszufinden.
Für wen geschrieben?
Für wen schreibt ein Autor, wen hat er im Blick? Ich frage mich das nicht immer. Aber im Fall von „Der große Sommer“ habe ich mich das gefragt. Ist es ein Coming-of-age Roman? Ja. Ein Roman vom Erwachsenenwerden? Ja. Ein Roman über Familie, Freundschaft, erste Liebe und Sexualität – auf jeden Fall! Und trotzdem würde ich ihn niemals meinen heranwachsenden Kindern empfehlen. Die lesen andere Auroren und „Coming-of-age-Romane“. „Der große Sommer“ ist für die geschrieben, die heute nicht mehr jung sind, sich aber mit Ewald Arenz an vergangene Zeiten erinnern möchten. Und vielleicht hat Ewald Arenz diesen Roman in erster Linie für sich selbst geschrieben? (Ich meine irgendwo gelesen zu haben, dass der Roman autobiographische Züge trägt, kann mich aber in diesem Punkt auch irren…)
Die Geschichte entwickelt sich eher bedächtig und leise, zieht langsam ihre Kreise und beleuchtet neben der Beziehung unter den Freunden (und deren Elternhaus) vor allem die Beziehung zwischen Friedrich und seinen Großeltern.
Sprachlich wunderbar erzählt, erkenne ich auch meine Kindheit hier wieder. Das fühlt sich an, als blättere ich in alten vergilbten Fotoalben und mir wird ganz nostalgisch zumute. Damals suchte man noch Telefonzellen auf, kramte immer nach Kleingeld in den Taschen, hing an öffentlichen Plätzen ab, legte eine Platte auf, die nach und nach Kratzer bekam, quälte sich durch Bundesjugendspiele und auch mit Latein und Mathematik.
Mein Fazit
Der Roman bekommt viel Zuspruch unter Rezensenten, allerdings taucht auch immer wieder die Zuschreibung auf, er sei „harmlos“. Ich selbst bin hin- und hergerissen. Ewald Arenz ist ein hervorragender Erzähler. Gerade als Hörbuch entfaltet seine Sprache ihren Glanz. Ich fühle mich von Anfang an wie in einer Blase gut aufgehoben. Hier wird es nie kitschig, nie schief, immer präzise und genau – allerdings mit einer Einschränkung: Mir persönlich war der Plot zu langatmig und für die Länge und die Zeit, die die Geschichte sich nimmt, passiert zu wenig. Die Ankündigung zu Beginn, dieser eine Sommer habe das Leben von Friedrich für immer verändert, wird – meines Erachtens – nicht wirklich eingelöst. Ich habe ständig auf die große Wende, ein tragisches Ereignis, den Paukenschlag gewartet, der aber in seiner Wucht ausblieb.
Schön geschrieben bedeutet noch nicht, dass ich automatisch dabeibleibe. Mir ist mehrmals zwischendurch die Puste ausgegangen und ich habe gedacht, egal, ich könnte jetzt abbrechen, ohne wissen zu wollen, wie es mit Friedrich weitergeht – und es wäre auch gut. Mir würde nichts fehlen. Dass ich dennoch bis zum Schluss an der Geschichte drangeblieben bin, ist u. a. der angenehmen Vorlesestimme von Torben Kessler zu verdanken. So begleitete mich das Hörbuch auf ein paar sommerlichen Spaziergängen durch Berliner Parks und Wälder.