Ich stehe an der dänischen Nordseeküste. Das Gesicht kalt, meine Nase läuft. Um mich herum Dunkelheit. Eine vollständige Finsternis, nicht wie in Berlin. Über mir funkeln die Sterne. Eine Ewigkeit ist es her, dass ich den Nachthimmel betrachtet habe. Und wenn ich nach oben schaue, sehe ich daheim nur ein mit Wolken verhangenes, stickiges Firmament. Hier und heute ist der Blick ungetrübt. Die Sterne so nah, als müsse ich nur meine Hand ausstrecken … Erstaunen, Verzücken, Friede, Klarheit. Wenn es dunkel ist, strahlt Licht heller. – Braucht das Leben die Folie des Dunklen?
Ja. Das Leben ist, wie es ist: Kompliziert. Nicht schwarz-weiß – es bietet alle möglichen Schattierungen. Ethan Hawke schreibt über einen Kinoschauspieler, William Harding, der zum ersten Mal in einem Theaterstück am Broadway mitspielt. Einen Klassiker: Heinrich IV. Und er spielt den Schurken, den Bösewicht, der seine gerechte Strafe bekommt und am Ende getötet wird. William selbst steckt gerade in einer Krise. Er hat seine Rockstar-Ehefrau Mary mit einer anderen betrogen und die Presse schlachtet seinen Fehltritt mit Vergnügen aus. Er ist das Arschloch, so viel steht fest. Dabei versucht er weiterhin, ein guter Vater zu sein. Aber sein Leben droht ihm zu entgleiten. Koks, Alkohol, Frauen … nur die täglichen Proben halten ihn auf Kurs. Auch wenn er an allem zweifelt und selbstzerstörerische Tendenzen an den Tag legt, eins kann er: in fremde Rollen schlüpfen. Wenn er auf der Bühne steht, ist er ein anderer und doch ganz er selbst. Und so spielt er die Rolle des Bösen mit einer solchen Intensität, dass es ihn fast die Stimme und beinahe das Leben kostet.
Club der toten Dichter. Before Sunset. Boyhood und viele andere. Ethan Hawke schreibt über seine eigene Branche. Schauspieler. Regisseur. Autor. Schreibt er in Wahrheit über sich selbst?* Über Kolleg*innen? Über die harte Arbeit hinter den Kulissen? Wenig Glamour, viel Schweiß und Tränen? Über Eitelkeiten und Neidereien, über Höhenflüge und Zusammenbrüche. Darüber, dass Hollywoodschauspieler auch nur Menschen und mitunter arme Würstchen sind? „Hell strahlt die Dunkelheit“ ist sehr klug. Sehr anrührend. Sehr entlarvend. Und sehr klar, so wie ein Blick in den Nachthimmel und plötzlich ruckeln sich die Dimensionen des eigenen Lebens zurecht … Ach ja, und der Zuschauer bekommt auch sein Fett weg: Protagonist William wird von allen möglichen x-beliebigen Menschen vom Taxifahrer über tuschelnde Theaterbescher und Passanten, die ihn zufällig auf der Straße treffen, gesagt, was sie von ihm halten. Promis sind nur Promis, weil sie ein Gegenüber haben von NIcht-Promis, ein Publikum, Fans und Hater buntgemischt, manchmal auch einfach nur Voyeure, die froh sind, aus der Ferne anderen beim Scheitern zuzusehen. Und jeder und jede nimmt sich das Recht heraus, über William zu urteilen. Williams Panzer ist der Ruhm, das Geld oder seine Familie. Und wenn es schlechte Kritiken hagelt, der Marktwert fällt und die Ehe zerbricht? Dann ist nicht mehr viel übrig vom Panzer, dem imaginären Schutzschild. Der gutaussehende Sunnyboy ist zum Abschuss freigegeben …
„Endlich löste sich meine Brust in lauten, krampfartigen Schluchzern. Mir ist bewusst, dass ich aus eigener Erfahrung rein gar nichts über echtes Leiden weiß. Ich sehe, was in der Welt geschieht. Ich lese Zeitung. Die Polarkappen schmelzen. Ich sehe die Armut und die Krankheit. Ich begreife, dass die Menschheit in einen größeren gewaltigen Kampf verstrickt ist … aber ich hatte geglaubt, ich wäre komplett, fertig, ein durchgegartes, reifes, erwachsenes männliches Wesen. Bevor all das passiert ist, meine ich. (…) Aber so war es nicht. Ich war nicht auf einem Plateau. Ich war auf dem Weg nach unten, stolpernd, taumelnd ud brennend. Mein ganzes Wesen, meine Persönlichkeit, mein Ich, oder wo immer mein Selbst wohnt, von mir aus meine Seele, wurde in einem riesigen eisernen Kessel ausgekocht wie eine Karotte, die ihren Geschmack verliert.“
Wer bin ich? Was macht mich aus? Ethan Hawke philosophiert über Identität und Selbstbewusstsein, übers Scheitern und Weitermachen, übers Erwachsenwerden, obwohl man schon erwachsen ist, über Familie, das Leben und Talente, die Fluch und Segen zugleich sein können. Und darüber, dass man nie den Zustand erlangt „fertig“ zu sein.
Ein Buch für einen langen Blick in die Sterne und einsame Spaziergänge, um über sich und die Welt nachzusinnen. Von mir gibt es eine klare Leseempfehlung!
*Anmerkung: Manche Rezensionen versuchen die Parallelen zwischen Hawkes Leben und dem erdachten William Harding aufzuzeigen, z. B. hat sich Hawke Anfang der 2000er nach Vorwürfen der Untreue von Uma Thurman getrennt und zeitgleich auch die Rolle des Henry Percy in Heinrich IV. gespielt, s. auch https://kulturnews.de/ethan-hawke-hell-strahlt-die-dunkelheit/ Aber ist es wichtig, wie viel Ethan Hawke in William Harding steckt? Versucht Hawke die Aufarbeitung der eigenen Biographie? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Schließlich ist es keine Autobiographie, sondern ein Roman. Und als solchen habe ich ihn gelesen.
Ethan Hawke, Hell strahlt die Dunkelheit, Kiepenheuer&Witsch, 2021, 336 Seiten.