Frost

Es ist kalt draussen. Richtig kalt. Es ist das perfekte Wetter für einen Islandkrimi. Dass ich Island liebe, habe ich hier schon oft erwähnt. Es ist trotzdem nicht so, dass ich alle isländischen Krimiautoren weglese, die sich mir in den Weg stellen (manchmal sind es auch gar keine Krimis!), aber Ragnar Jónasson ist für mich der King-of-Iceland-Crime. Bei seinen Büchern muss ich also keine Sekunde überlegen.

Was man bei einem Jónasson nicht bekommt? Blutrünstige Mörderjagden, atemlose Ermittler und ständige Plot twists, wie Fitzek und Konsorten sie alle paar Meter einbauen.

Jónasson bleibt auch in „FROST“ seinen typischen Erzählmerkmalen treu: Er schreibt schlicht, präzise und genau, mit Bedacht und guter Kenntnis der menschlichen Natur. So sind es oft die Zwischentöne und das, was ungesagt bleibt, was lange nachwirkt. Ich möchte wissen, was seine Figuren verheimlichen und was sie antreibt. Es ist ein großes Puzzle, das sich beim Lesen oder Hören entfaltet (das Hörbuch ist wunderbar eingelesen von Thomas M. Meinhardt). Jedes Teilchen wird betrachtet. Es dauert lange, bis sich daraus ein Bild ergibt. Jónasson Ermittler sind stille Einzelgänger, tragen selbst an Lasten und Geheimnissen, sind unbequem und hartnäckig und brauchen Zeit, um die Fäden einer Tat zu sortieren, die in der Regel tief in die Vergangenheit führen. Aber Vorsicht! Wer glaubt, es handele sich bei „FROST“ um eine Fortsetzung der Hulda-Trilogie, wird enttäuscht sein. Hulda kommt zwar in „FROST“ vor (und sie ist auch an ihrem Platz wichtig), aber sie ist nur eine Randfigur. Ich finde es grandios, wie Jónasson sie hier einfädelt, ihre persönliche Geschichte einfließen lässt, die wir ja alle bereits kennen (Jon ist 1983 noch der liebe Jon und Dimma noch nicht tot).

Helgi Reykdal steht als Ermittler im Mittelpunkt der Geschichte. Für ihn musste Hulda vorzeitig in den Ruhestand gehen und in „DUNKEL“ ihren Schreibtisch räumen (genau das wird in „Frost“ aufgenommen…). Als Leserin war ich damals ganz auf Huldas Seite: wie schrecklich, dass sie so einfach und schnell durch einen jungen Mann ersetzt wurde (sie, die es als Frau bei der isländischen Polizei so schwer hatte…). Aber Helgi Reykdal trifft daran keine Schuld. Er hat Kriminalistik studiert und schreibt gerade an seiner Abschlussarbeit. Huldas Chef bietet Helgi eine Stelle an – er drängt ihn regelrecht dazu, obwohl Helgis Arbeit noch nicht fertig ist. Für seinen Abschluss hat sich Helgi einen besonderen Fall herausgesucht, einen cold case aus dem Jahr 1983: eine Krankenschwester und der Chefarzt eines Tuberkulose Santoriums hoch im Norden Islands, in Akureyri, wurden ermordet. Krankenschwester Tinna findet Kollegin Yrsa tot auf. Ihr wurden zwei Finger abgetrennt. Die Polizei tappt völlig im Dunkeln. Mehrmals wird Tinna als wichtige Zeugin befragt. Dabei beeinflusst sie den Verlauf der Ermittlungen, indem sie z. B. Andeutungen macht, die nicht der Wahrheit entsprechen, Dinge ausschmückt oder weglässt. Zunächst gerät so der Hausmeister unter Verdacht. Als der Chefarzt in den Tod stürzt, lastet man ihm den Mord an Yrsa an und legt den Fall zu den Akten. Die junge Hulda sieht zwar einige Ungereimtheiten, darf aber nicht weiter ermitteln …

Helgi rollt den Fall für seine Arbeit noch einmal auf. Die Ermittlungen führen ihn weit zurück. Das Erzählen auf verschiedenen Zeitebenen zeichnet Ragnar Jónasson aus. Er schreibt keine Thriller im klassischen Sinn. Bei ihm werden viele Geschichten zu einer Geschichte – und es gibt kleine Geheimnisse und auch große. (…) Die Auflösung ist wieder einmal grandios. Helgis privates Schicksal dagegeben bestürzend. Was für ein Finale!

Klare Lese- oder Hörempfehlung von mir!

Frost ist erschienen im btb-Verlag.

Das Hörbuch dazu gibt es bei Audible.

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