Ragnar Jónasson

„Is this the best crime writer in the world today?“ Diese Frage hat die Times aufgeworfen. Schlagzeilen brauchen Superlative. Ist Ragnar Jónasson der beste „Scandi writer working today“? Möglicherweise. Die Crime-Szene ist mittlerweile groß und unübersichtlich. Aber Ragnar Jónasson sticht heraus: mit Preisen überhäuft, in alle Welt übersetzt, verfilmt … und kein Ende in Sicht. Ein bißchen erinnert er mich bzw. sein Erfolg an den Hype um skandinavische Krimis Anfang der 1990er Jahre. Mit Henning Mankell entdeckte ich die düstere Seite Schwedens. Stieg Larssons Trilogie um Lisbeth Salander setzte 10 Jahre später noch einmal eine neue Marke: noch mehr Spannung, noch mehr Grausamkeit, mehr dunkle Geheimnisse – noch mehr Erfolg.

Was soll danach noch kommen?

Ich habe mir etwas Abstand gegönnt. Heute wähle ich sehr genau aus, welche Art Krimi ich lesen möchte. Manchmal greife ich auch wieder zu nordischen Krimis. Mich interessieren dabei aber weniger die stromlinienförmig erzählten Geschichten, die der Frage „Whodunnit“ nachgehen. Das Krimigenre hat sich verändert. Grenzen sind fließend: Wo hört der Krimi auf, wo fängt der Gesellschaftroman an? Leise Töne werden angeschlagen, nicht die blutige Kettensäge angeworfen.

„Was wir verschweigen“ von Arttu Tuominen ist ein Beispiel dafür. Oder auch Jan Costin Wagners Kimmo-Joentaa-Reihe (der Autor lebt in Frankfurt, ist aber mit einer Finnin verheiratet – das zählt auch als Scandi-crime-writer, oder?). Ragnar Jonasson ist vor allem mit seiner Hulda-Trilogie weltbekannt geworden. Hulda, eine Kommissarin in Reykjavik, steht kurz vor der Pensionierung. Ihre Geschichte wird in Rückblenden erzählt. Die Zeitebenen sind kunstvoll miteinander verwoben. Dark Iceland? Finde ich bei Hulda in jedem Fall!

Die tatsächliche Dark-Iceland-Reihe umfasst 5 Bände und wurde meines Wissens bereits vor Hulda geschrieben: Schneeblind. Todesnacht. Blindes Eis. Totenklippe. Schneetod. Kriminalfälle mit Ermittler Ari Thór Arason, die in in Siglufjörður spielen, einem kleinen isländischen Ort im unwirtlichen Norden. Dort tritt Ari seine erste Stelle im Polizeidienst an. Und natürlich lassen die Kapitalverbrechen nicht lange auf sich warten …

In Schneeblind stürzt ein alter Schriftsteller die Treppe hinab und bricht sich das Genick – kurz bevor das jährliche Theaterstück Premiere hat. Hinter den Kulissen gab es vor dem Sturz noch einen heftigen Streit zwischen Drehbuchautor und Regisseur. War der Sturz ein tragischer Unfall oder kaltblütiger Mord? Ari, der neue Dorfpolizist, spricht mit allen, die den Toten gekannt haben. Nach und nach ergibt sich ein Geflecht an Lügen, Täuschungen und Intrigen, die weit in die Vergangenheit zurückreichen.

Todesnacht dreht sich um den Tod von Elias Freysson. Schon bald wird klar, dass der Tote nicht der war, der er zu sein vorgab: freundlich, hilfsbereit und ein Freund und Unterstützer eines Wohltätigkeitsvereins. Diese glatte Fassade ist die Tarnung eines Kriminellen. Vor allem durch die Recherche von Isrun, einer ambitionierten Fernsehjournalistin, wird der wahre Charakter von Elias offengelegt – und ganz nebenbei sein Mörder „ermittelt“. Elias ist in Menschenhandel verstrickt und hat noch einiges mehr auf dem Kerbholz.

Den dritten Band „Blindes Eis“ habe ich bestellt. Auch wenn mich die Hulda-Geschichten mehr in den Bann gezogen haben, bleibe ich der Dark-Iceland-Reihe treu. Wenn man sich Rezensionen auf Amazon durchliest, wird man feststellen, dass die Leserinnen und Leser viel Kritik üben. Die Stories seien langweilig, ohne Spannung – keine klassischen Krimis. Und tatsächlich: Wer Spannung sucht, sollte zu einem Thriller greifen. Ragnar Jonassons Geschichten bauen sich langsam auf, mit vielen Verzweigungen und mit vielen Personen. Das ist in der Tat etwas, das mir dieses Mal auch negativ aufgefallen ist: Ari kann es mit Hulda nicht aufnehmen. In Todesnacht ist es eigentlich Isrun, die entscheidende Details ermittelt. Ari wird (fast) zur Nebenfigur.

Mein Fazit:

Ragnar Jónasson, von Hause aus Jurist und sicher mit Polizeiarbeit bestens vertraut, entwirft wieder einmal einen Fall, der „aus dem Leben“ gegriffen zu sein scheint und wo sich ein Puzzleteil nach dem anderen zusammensetzt, ohne auf reißerische Details zurückzugreifen. Recht authentisch oder lebensnah würde ich diese Schreibe bezeichnen. Mir gefällt sie sehr. Wer einen „klassischen“ Krimi oder gar Thriller sucht, wird jedoch enttäuscht sein.

Übrigens: Jan Costin Wagner hat seinen zweiten Ben Neven Fall vorgelegt. „Am roten Strand“ findet sich also auch bald in meiner Blog-Bibliothek – ich freu mich darauf!

Die Dark Iceland Reihe ist im S. Fischer Verlag erschienen.

Quellen:

http://ragnar-jonasson.squarespace.com/new-page

https://www.buecherserien.de/ragnar-jonasson/

https://www.nordic-crime.de/ragnar-jonasson/

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