Ein Sommer in Niendorf

Hier werden Erinnerungen geweckt – schön und gruselig oder einfach schön gruselig. Wer kennt sie nicht? Die Urlaube an der Ostsee in Strandbädern, die in den 1970er Jahren mal schick waren, dann aber schlecht gealtert sind. Der Lack ist ab. Die Flachdächer, Bungalows, die Seeterassen und Kurhäuser sind marode, mittlerweile dicht oder abgerissen. Travemünde, Grömitz, Dahme, Hansapark … lang ist’s her! Unzählige Sommer in den 1980er Jahren haben wir dort verbracht. Und ich weiß nicht, ob Heinz Strunk mir diese Region noch einmal schmackhaft machen oder ganz und gar austreiben möchte? Vermutlich keins von beidem. Trotzdem bin ich hin- und hergerissen zwischen: Fahr doch mal wieder hin oder lauf weg, so schnell du kannst.

Ein Sommer in Niendorf also.

Roth, ein angesehener Anwalt, kommt nach Niendorf, um sich dort drei Monate eine Auszeit in der Sommerfrische zu gönnen. Er bekommt, was dem Standardtouristen sicher bekannt ist: ein Mini-Appartment, der Strand fußläufig, Strandkorb, Fischbrötchen, Pils und Strandspaziergänge bei Sonnenuntergang.

Am Ostseestrand sorgt abends der Strandkorbdreher Breda dafür, dass alle Körbe am nächsten Morgen wieder gleich ausgerichtet sind. In Niendorf hat alles seine Ordnung, fast alles …

Roth möchte die Zeit nutzen, um ein Buch zu schreiben. Das kann doch nicht so schwer sein. Er sieht sich schon als erfolgreicher Autor, der auf Lesereise geht und dessen Roman von Netflix und Co verfilmt wird. Immer wieder beschwört Roth den Geist großer Autoren und Autorinnen herauf, schließlich tagte in den 1950er Jahren die Schriftstellergruppe 47 in Niendorf. Good Vibes? Mal sehn … Roth geht es pragmatisch an: Er rechnet sich aus, wie viele Seiten er pro Tag schreiben muss, um eine passable Seitenzahl zu bekommen. Mehr Ziele hat er nicht für seine drei Monate Urlaub. Doch dann kommt alles anders. Viel, wirklich viel Alkohol, dazu die „falschen“ Kontakte, der übergriffige, gleichsam kaputte wie geschäftstüchtige Breda mit seiner anhänglichen und adipösen Freundin Simone, das seltsame Ehepaar Klippstein, das Roth umsorgt, die Kellnerin im häufig besuchten Lokal „Brimborium“, der Roth nachsteigt …

Irgendwann wirkt alles – die Gegend, die Menschen, Roth selbst – nur noch dreckig, heruntergekommen und versifft. Die Atmosphäre des Romans erinnert mich etwas an die im „Goldenen Handschuh“, nur ohne Tote. Heinz Strunk schafft es, den Kaputten und Gescheiterten Raum zu geben, ohne dabei arrogant und überheblich zu sein. Hauptfigur Roth mit seinen Maßanzügen erlebt selbst den Absturz. Bestes Sinnbild dafür: Roth stürzt im Suff, seine Hose zerreißt, er tritt in Hundekot, er stinkt. Mehr geht nicht. Er ist ganz unten.

Tragik und Humor gehen Hand in Hand. Es ist die besondere Strunk-Mischung.

Die Gruppe der 47 spielt immer wieder ein Rolle. Große Vorbilder Paul Celan, Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Thomas Mann – mit letzterem wird „Ein Sommer in Niendorf“ oft in Verbindung gebracht bzw. mit den Romanen „Tod in Venedig“ und „Zauberberg“.

Zauberbergfeeling

Im Buch selbst findet „Der Zauberberg“ Erwähnung – irgendjemand kann daraus zitieren. Thomas Mann lässt Hans Castorp nach Davos fahren, um dort seine Lungenkrankheit auszuheilen. Doch die Uhren in dem Luxus-Sanatorium scheinen anders zu ticken. Niemand verlässt den Zauberberg so schnell wieder, manche bleiben ewig oder sterben. Ich sehe sie vor mir, wie die Patienten in warme Decken gehüllt auf den Liegestühlen in der Sonne sitzen. In Davos wie auch in Niendorf pflegen die Menschen ihre Gebrechen, sitzen auf Liegestühlen oder Strandkörben und halten das fiebrige Gesicht in die Sonne. Hier wie dort scheint es eine Parallelwelt zu geben, in der man sich schließlich einrichtet – und zwar für immer.

Roth wird Niendorf nicht mehr verlassen. Grotesker Weise möchte man ihn gleichzeitig bemitleiden wie beglückwünschen, denn obwohl mich seine Metamorphose abstößt, scheint er sein Glück in Niendorf gefunden zu haben – ein schräges „Happy End“. Roths Buchprojekt allerdings versickert im Ostseestrand.

Gregor Samsa

Strunks Roman ist kafkaesk: Roth verändert sich wie Gregor Samsa, auch wenn er zu keinem Insekt wird, mutiert er zu einer anderen Person. Er wird zu Breda, er wird zu dem, den er am Anfang mißachtet und als „Viech“ oder „Freak“ bezeichnet. Roth nimmt Bredas Platz ein – als Simones Freund und auch in seinem Geschäftseifer.

Fazit

Sehr skurril, sehr unterhaltsam, sehr nachdenklich stimmend. Für mich geht es um die Frage nach dem eigenen Lebensentwurf, dem Umgang mit dem Altern, Freundschaft und Beziehungen oder Einzelgängertum und Einsamkeit … und die Frage, die sich stellt: Stecke ich vielleicht im falschen Leben fest?

Ich weiß es nicht.

Im Leben und als Schriftsteller sollte man sich immer mal neu erfinden. Heinz Strunk hat das getan. Seinem typischen Strunk-Sound bleibt er treu, aber die Geschichte „Sommer in Niendorf“ hebt sich wunderbar von seinen Vorgängern ab. Ich finde, der Roman gehört zu seinen besten (viel besser als sein letzter!). Darauf stoße ich sicher nicht mit einem Chantré(!) oder Cola-Rum oder sonstigen Roth-Lieblingsgetränken an – aber vielleicht gönne ich mir einen Aperol Sprizz als ultimatives Promenanden-Sommergetränk. Wohl bekomm’s!

Eine wunderbare, glasklare Rezension liefert Erika Thomalla in der SZ – damit ist alles zu „Ein Sommer in Niendorf“ gesagt!

Benedikt Herber: Selig im Suff – eine ZEIT-Online-Rezension

Edo Reents in der FAZ über den Roman von Heinz Strunk.

3Sat Mediathek: Ein Sommer in Niendorf

Ein Sommer in Niendorf ist im Rowohlt Verlag erschienen.

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