Warum habe ich in meinem letzten Beitrag „Die Woche“ kritisiert, dass es sich nicht um einen Roman, sondern eine lose Essaysammlung ohne roten Faden handele? Und heute preise ich ein Buch an, das auch aus einer losen Textsammlung zu bestehen scheint? Wo liegt der Unterschied?
Ich habe keine Ahnung. So ist das mit dem persönlichen Geschmack! „Heute graben“ fehlt alles, was ein klassischer Roman braucht: eine Handlung mit einem Erzähl- oder Spannungsbogen. Trotzdem finde ich diesen „Roman“ großartig.
Mario Schlembach bietet eine Mischung aus Fiktion und Autobiographie: Der Ich-Erzähler ist wie Schlembach selbst sowohl Totengräber also auch Schreiber. Zumindest behauptet der Klappentext, Mario Schlembach lebe und arbeite als Autor und Totengräber in Wien. Das ist doch schon einmal eine Kombination, die einerseits aus dem Rahmen fällt, mir andererseits aber auch einleuchtet, denn als Autor reichen die Einnahmen oft nicht, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Wer ernsthaft schreibt, um davon leben zu können, braucht noch ein paar Nebenjobs, um sich über Wasser zu halten … Bei Mario Schlembach hat es aber vielleicht auch gar nichts mit seinen Finanzen zu tun, sondern schlichtweg mit einer Familientradition, die fortgeführt werden will. Der Beruf des Totengräbers scheint in der Familie zu liegen. Egal. Die Kombination ist exzentrisch. Ich mag das.
Der Ich-Erzähler/Totengräber beginnt zu schreiben, weil er den Verlust seiner großen Liebe zu A. überwinden will – er will A. aus sich herausschreiben. Schreiben als Lebenshilfe. Es werden noch einige weitere Namensbuchstaben hinzukommen, aber keine der nachfolgenden Frauen kann A.`s Platz einnehmen. Die Frauen suchen in der Regel das Weite, wenn sie erfahren, womit unser Erzähler sein Geld verdient. Niemand möchte beim ersten Date an den Tod erinnert werden.
„Irgendwie hat sich der feste Glaube entwickelt, dass ich, wenn ich das Buch über A. endlich fertiggeschrieben habe, zum ersten Mal frei aufatmen kann und es mir alle Last von den Schultern nimmt. So viele Beziehungen und Freundschaften habe ich dafür aufgegeben, mich völlig zurückgezogen. Und jetzt? Ich vermisse die Wärme einer anderen Person.„
Viel später wird er über J. schreiben:
„Was erhoffe ich mir von J.? Dass sie mich rettet? Mich vor mir selbst schützt? Mich aus dem Gefängnis meines Weltschmerzes befreit und mich zu einem liebesfähigen Wesen erzieht? Pygmalion? My trendy Totengräber? Blödsinn. Sobald ich J. brauche, kann ich sie unmöglich lieben.„
Pygmalion? Ich musste es nachschlagen: Pygmalion, ein Bildhauer, hat Pech mit den Frauen. Aber er sehnt sich nach einem Gegenüber, er bedarf einer Gefährtin. Und so erschafft sich aus Stein eine perfekte Frauenfigur – diese wird zum Leben erweckt … Der Mann kreiert sich seine Traumfrau, formt sie nach seinen Wünschen. Die Frau als Objekt? Sicher ist auch dies eine Sackgasse. (…)
Ob unser Totengräber am Ende die „wahre“ Liebe findet?
Seine Suche, wenn es denn wirklich eine ist, begleitet das Scheitern: Frauen, die er trifft, beenden unvermittelt die Beziehung, brechen den Kontakt ab, fliehen regelrecht nach dem ersten Date. Dann eine Krankheit, die diagnostiziert wird. Der Roman, an dem er nicht vorankommt. Fremde Menschen, die er buchstäblich unter die Erde bringt …
Das ist tragisch und komisch zugleich, skurril, aber auch anrührend – und es gibt diesen melancholischen Unterton, der die Erzählung begleitet. Die Friedhofsszenen dienen als Allegorie auf das Leben.
Der Roman bleibt fragmentarisch. Die Gedanken des Ich-Erzählers kreisen um Fragen nach Liebe und Glück, nach dem Hier, dem Diesseits, der Gegenwart und sind sich doch stets der Vergänglichkeit und der Begrenztheit des Lebens bewusst.
Für mich ist es nicht die Frage, wo finde ich ein Gegenüber, das mir entspricht – das mit es mit mir aushält, das mich sieht, wie ich bin. Die Frage ist doch: Wie halte ich es mit mir selbst aus? Wie balanciere ich mein Leben zwischen mir und den anderen, zwischen Nähe und Distanz, Einsamkeit und Zweisamkeit?
Mario Schlembach: Heute graben, kremayr&scheriau.
Als gut – oder „großartig“ -befunden von Christine Westermann.