Karin Slaughter steht mit ihren Romanen stets auf der Spiegel-Bestsellerliste. Sie zählt zu den etablierten Thrillerautorinnen. Netflix hat „Ein Teil von ihr“ mit Toni Collette als Serie verfilmt. Läuft. So viel kann man sagen. „Ein Teil von ihr“ ist der Vorläufer zu „Die Vergessene“. Ich bin mit „Die Vergessene“ eingestiegen und habe danach die Serie gesehen (und das Buch dazu ausgelassen). Die Hauptakteure sind gleich, der Kriminalfall ein anderer, auch wenn es Überschneidungen gibt.
Karin Slaughter erzählt auf verschiedenen Zeitebenen und verschiedenen Perspektiven. Es beginnt mit einem Rückblick auf:
1982
Emily Vaughn ist die Tochter eines Uni-Dozenten und einer aufstrebenden Richterin. Sie selbst träumt davon, die Kleinstadt zu verlassen, zu studieren, Karriere zu machen – auf eigenen Beinen zu stehen. Doch wenige Monate vor ihrem Highschoolabschluss wird sie schwanger. Sie weiß nicht, wer der Vater ist. Ihre Freunde wenden sich von ihr ab. Sie darf nicht mehr zur Schule gehen. Eine Abtreibung kommt nicht in Frage – vor allem, weil Emilys Mutter kurz vor ihrer Ernennung zur Bundesrichterin durch die konservative Reagan-Regierung steht. Als sie hochschwanger und gegen den Wunsch ihrer Eltern zum Abschlussball geht, findet man sie brutal zugerichtet in einer dunklen Seitenstraße von Longbill Beach. Emily überlebt den Angriff nicht, ihr Baby aber wird gerettet. Die Tat wurde nie aufgeklärt. Und auch darüber, wer der Vater von Emily Vaughns Tochter ist, gibt es nur Spekulationen.
Vierzig Jahre später
Andrea Oliver (Hauptfigur aus „Ein Teil von ihr“) hat mittlerweile eine Ausbildung zur US-Marshalin absolviert. Ihr erster Auftrag führt sie nach Longbill Beach, um dort eine ehemalige Bundesrichterin (die Mutter von Emily Vaughn) vor einem möglichen Attentat zu schützen. Andrea stellt heimlich Nachforschungen über die Umstände zu Emilys Tod an – und das aus ganz persönlichem Interesse: Ihr Vater, Clayton Morrow, könnte auch der Vater von Emilys Tochter sein … hat vielleicht Clay Emily ermordet? Clay gehörte wie Nardo, Ricky und Blake zu Emilys engster Freundesclique. Blake ist mittlerweile verstorben. Clay sitzt im Gefängnis. Aber Nardo und Ricky leben noch in Longbill Beach. Ebenso der schmierige Dean Wexler, ein ehemaliger Lehrer von Emily, der heute mit Nardo eine zwielichtige Farm unterhält. Andrea macht sich daran, vierzig Jahre alte Geheimnisse zu lüften …
Zugegeben: Allein beim Schreiben und sortieren der Zeitebenen habe ich gemerkt, wie schwer es ist, die Handlung sinnvoll zusammenzufassen. Vor allem die Vorgeschichte von Andrea lässt sich ohne Vorkenntnisse aus dem ersten Teil nur schwer einordnen. Aber das ist nicht der Punkt, also mein Kritikpunkt. Dass Krimis oder Thriller auf mehreren Zeitebenen spielen, ist längst üblich. Immer wieder bekommt Emily eine eigene Stimme, sehen wir durch ihre Augen die Welt, erleben mit ihr ihre letzten Wochen und Tage. Soweit, so gut. Mich hat diese Ebene irgendwann nur noch verwundert, ja sogar wütend gemacht. Da ist eine intelligente, ja, auch etwas naive, unerfahrene junge Frau von 17 Jahren, die seit 10 Jahren mit ihren allerbesten Freunden Clay, Nardo, Blake und ihrer Freundin Ricky abhängt – und sie hat nicht bemerkt, dass alle vier Arschlöcher sind? Dass sich niemand für sie interessiert, niemand auf ihrer Seite steht, sie nur ausgenutzt wird? Wie wenig Menschenkenntnis besitzt Emily?
Auf weiter Flur gibt es keine sympathischen Charaktere. Die Männer sind fast allesamt schlagende, brutale Schweine (inklusive Emilys Vater), die Frauen sind nicht besser. Die Männer sind sich in ihrer Art oft so ähnlich, dass man sie kaum unterscheiden kann. Sie behandeln Frauen schlecht, ständig bekommen Frauen blaue Flecke an Handgelenken, weil Männerhände sich „wie Schraubstöcke“ darum winden. Das ist mir persönlich viel zu stereotyp. Und zu allem Überfluss halten Nardo und Dean Frauen auf ihrer Farm wie Sklavinnen – und niemand kann etwas dagegen tun.
Und dann die Eltern! Okay. Emilys Vater, der Uni-Dozent, ist ein Despot und verprügelt die Frauen der Familie. Die Geschichte von häuslicher Gewalt bleibt aber an der Oberfläche. Emilys Mutter ist Richterin. Sie ist klüger und erfolgreicher als ihr Ehemann. Aber zu Hause lässt sie sich von ihm verprügeln? Sie kennt ihre Rechte. Sie selbst geht beruflich über Leichen. Auch die Herzenswärme für ihre Tochter fehlt ihr. Aber gegen ihren furchtbaren Ehemann ist sie machtlos? Ich bin da raus. Die Konstellationen zwischen den Personen habe ich bis zum Schluss nicht verstanden.
Welche Geschichte wollte Karin Slaughter eigentlich erzählen? Ich weiß es nicht. Der Geschichte fehlte es auf den unfassbaren 600 Seiten an Spannung, Stringenz und glaubhaften Charakteren. Sollte sie hier eine neue Krimireihe im Sinn gehabt haben, bin ich raus. Bitte keinen weiteren Andrea Oliver Teil mehr.