Ein Buch, das bereits 2019 erschienen ist. Ich hatte es bisher nicht beachtet, weil ich es unter „Schreibratgeber“ einsortiert und wahrgenommen hatte. Ich möchte keinen Schreibratgeber lesen. Und Bücher zur Biographiearbeit kenne ich aus beruflichen Gründen bereits zur Genüge. Und dann ist es mir dennoch in die Hände gefallen – beziehungsweise hat den Weg zu meinen Ohren gefunden. Wie sooft war ich auf der Suche nach einem Hörbuch. Ich benötige stets neuen Stoff für die Ohren während langer Spaziergänge und Wanderungen mit dem Hund. Wenn ein Autor sein Werk selbst liest, ist das für mich schon ein Ausschlusskriterium, es sei denn, es handelt sich um einen ausgebildeten Schauspieler. Edgar Selge kann jeden Text einsprechen, natürlich auch den eigenen. Ein Jan Weiler (Kühn hat Hunger), Karsten Dusse (Achtsam morden ab Band 2) oder Marc Uwe Kling (QualityLand) ertrage ich nicht über viele Stunden. Allesamt gute Schreiber, aber nichts fürs Ohr, mein Ohr, sorry. Doris Dörrie spricht ihren Text selbst ein. Und das ist wunderbar. Ich kann ihr gut zuhören, weil es keine fiktive Geschichte ist, sondern autobiographisch. Es ist, als erzähle Doris Dörrie mir aus ihrem Leben, was sie auch tut, ich hätte nur nicht damit gerechnet, dass es so persönlich wird.
Doris Dörrie schreibt auch – oder vor allem – Romane, fiktive Geschichten (Das blaue Kleid). Ich mag ihren Stil. Ich mag auch ihre Filme, die meisten zumindest. Und sie hat tatsächlich eine Menge zu erzählen – ich höre ihr gerne zu, also in „Leben. Schreiben. Atmen“.
Eine Reise in die Vergangenheit
Dieses Buch hat mich also auf mehreren Ebenen überrascht. Es ist nicht nur gut zu lesen, sondern auch gut zu hören. Es ist kein Schreibratgeber. Aber es regt mich an, über meine Vergangenheit, insbesondere meine Kindheit nachzudenken, mich an Details und Episoden zu erinnern, an die ich lange nicht gedacht habe. Da ist noch nichts dabei, was ich gern aufschreiben möchte, brauche ich auch nicht, mache ich vielleicht später, irgendwann. Während Frau Dörrie erzählt, docken meine eigenen Erinnerungen an. Und das allein ist schon eine Reise für mich. (Wie waren meine Eltern, als ich klein war? Wie das Verhältnis zu meinen jüngeren Schwestern? Was habe ich für Unfug angestellt? Was ist mein Lieblingsort? Wovon träumte ich? Und ist heute noch etwas von diesem Kind inmir zu finden, das in Latzhose in Steinbrüchen geklettert und von Garagendächern gesprungen ist, sich die Hose unter Stacheldraht aufgerissen hat und auch sonst die Freiheit einer Kindheit in den 1970er Jahren genossen hat? …)
Doris Dörrie erzählt von sich und ihren Schwestern. Wie die Kinder heimlich Wurstscheiben aus dem Kühlschrank stibitzten und dann von den Eltern zur Rede gestellt wurden. Nur sie, die älteste, hat dem Verhör standgehalten und hartnäckig geschwiegen, obwohl sie die meiste Wurst gegessen hatte. Von Familie und Freundschaft ist die Rede. Von Krankheit und Tod. Mutterschaft. Reisen. Doris Dörrie hat viel zu erzählen, wobei es die Details, die Kleinigkeiten sind, die ihr Erzählen ausmachen. Sie erweckt Erinnerungen wie kleine Filmszenen zum Leben.
Greif zum Stift und schreib!
Einen Schreibtipp nehme ich mir dann doch mit: Stift und Blatt nehmen und schreiben. Einfach so. Einfach mit der Hand anfangen, Worte aufs Papier zu bringen, zu schreiben über das, was einem in dem Moment durch den Kopf geht. Sich treiben lassen von Gedanken und Worten und erst nach einer gewissen Zeit wieder damit aufzuhören. Zehn Minuten einfach durchschreiben. Das finde ich eine spannende Übung. Schreiben ohne Zensur. Schreiben ohne Autokorrektur. Schreibend aus der Kraft der Gedanken und Erinnerungen schöpfen, auch wenn die vielleicht zunächst konfus erscheinen.
Mein Fazit:
Ich habe mit Doris Dörrie das neue Jahr begonnen. Lesend und Schreibend. Das alles gehört zu meinem Leben dazu wie das Atmen. Eine schöne Reihung und ein treffender Vergleich: das Schreiben mit dem Atmen zu vergleichen. Ich atme ein und atme schreibend aus. Die Welt in sich auf nehmen und wieder loslassen. In diesem Rhythmus lebe ich auch. Mir das bewusst zu machen, mich meiner selbst zu vergewissern, wie Doris Dörrie das vormacht, ist für mich genau das Richtige am Anfang eines frischen Jahres.
Buchvorstellung im Bayrischen Rundfunk
Doris Dörrie im Interview bei BR
Doris Dörrie und ihre Bücher bei Diogenes.
… ach ja, gerade hat sie ein neues Werk am Start: Die Heldin reist.