Fairy Tale

Stephen King hat ein Märchen geschrieben. Es hat 880 Seiten und kostet 28 Euro. Ein kapitales Werk also. Ich habe in meinem Blog schon Bücher von Stephen King vorgestellt. Das Institut zum Beispiel oder Sleeping Beauties. Ich kenne mich in seiner Werkbiographie nicht gut aus, schätze ihn aber als Autor – trotzdem halte ich Fairy Tale für eine völlig überflüssige Geschichte:

Sie ist langatmig, vorgestrig, auf eine seltsame Weise altklug, bei vielen bekannten Motiven und Geschichten abgekupfert – und in keiner Weise „modern“, frisch oder originell neu erzählt – klingt für mich nach dem letzten Jahrtausen, die 1990er Jahre lassen grüßen … ach, also gut, von vorne, immerhin habe ich mich durchgequält.

Inhalt

Charly Reade hat seine Mutter durch einen Unfall verloren. Danach verfiel sein Vater dem Alkohol. Die beiden haben es nicht leicht, aber der Vater schafft es, sein Leben in den Griff zu bekommen – für seinen Sohn. Der wiederum ist ein besonderer Junge, der als einziger den geheimnisvollen und sterbenskranken Nachbarn pflegt, um den sonst alle einen großen Bogen machen. Vor allem aber kümmert sich Charly um den Hund des Nachbarn, die Schäferhündin Radar. Sie ist – ebenso wie ihr Besitzer – alt und krank. Der Nachbar bittet Charly auf seinem Sterbebett, sich um seine Hündin zu kümmern, wenn er tot ist. Außerdem vetraut er ihm ein Geheimnis an: Er ist so etwas wie der Torhüter zu einer anderen Welt. Diese Welt erreicht man durch einen Tunnel in seinem Schuppen. Er erzählt Charly, dass es in dieser anderen Welt eine Sonnenuhr gibt, die die Lebenszeit zurückdrehen kann. Als der Nachbar, Mr Bowditch, gestorben ist, fasst Charly den Plan, Radar zur Sonnenuhr zu bringen, damit sie nicht stirbt. Radar ist Charly sehr ans Herz gewachsen. Die beiden brechen auf, gelangen in die Anderwelt Empis – und irgendwann (ohne dass irgendetwas Spannendes passiert) auch zu der Sonnenuhr. Der angeblich so gefährliche Weg liest sich auf den ersten 300 Seiten wie ein harmloser Spaziergang. Die Probleme und etwas Spannung tauchen erst auf dem Rückweg auf, als Charly nämlich von den unheimlichen Nachtsoldaten geschnappt wird. Jetzt beginnt die Geschichte eigentlich erst richtig … Charly lernt Empis besser kennen bzw. andere, die mit ihm eingesperrt sind, erzählen ihm die Geschichte dieser andersartigen Welt. Also auch hier passiert eigentlich nicht viel, denn hier wird erklärt, angedeutet – und geschwafelt. Die alte Schreibregel „Show, don’t tell“ scheint für Stephen King nicht zu gelten.

Warum ich es doch beendet habe?

Ich bin überhaupt erst einmal bis nach Empis gekommen wegen Radar. Denn trotz der langatmigen Erzählweise wollte ich wissen, ob Radar gerettet werden kann und was Radars Mission ist. Ich dachte wirklich, dass ihr noch eine entscheidende Rolle zukommen muss, wenn sie es wert ist, ihr Leben zu verjüngen. Aber es war leider so, als würde nach der Sonnenuhrepisode ein neues Buch beginnen. Radar kann fliehen. Charly wird festgestezt. Kaum sitzt er im Gefängnis, wird er zum „Prinz“. Prinz Charly mit dem blonden Haar. Das kam aus dem Nichts, ohne plausible Erklärung, wurde dann ausgetreten, ohne dass es dafür irgendeinen Grund gab, um die Prinzensache am Ende wieder fallen zu lassen. Über diese fehlende logische Stringenz bin ich sehr enttäuscht. Was hat sich Stephen King dabei gedacht?

Dazwischen finden sich Märchenmotive (immer wieder Anspielungen auf Rumpelstilzchen und die Gebrüder Grimm) und bekannte Motive z. B. aus Die Tribute von Panem oder aus Der Zauberer von Oz.

Treffend bringt es Danny Marques-Marcalo für NDR-Kultur auf den Punkt:

„Fairy Tale“ ist leider nicht märchenhaft. Sondern vor allem langatmig. Bis Charlie mal nach Empis kommt, dauert es fast 300 Seiten, von insgesamt fast 900. Er ist auch nicht sonderlich sympathisch. Altklug hat er immer das passende Zitat auf der Lippe aus irgendwelchen Büchern, die er gelesen hat, aus Schwarz-weiß-Filmen, die er gesehen hat. Es ist schwer diese Figur zu „glauben“. Und es ist alles so trostlos und bedrückend.“

Beispiel gefällig? Charly gibt ständig Sinnsprüche von sich wie „Scham ist wie Eingebung oder Lachen. Sie klopft nicht an.“ Mmh, ok.

Ich bin enttäuscht, weil ich mehr erwartet hätte. Stephen King ist ein großartiger Schreiber. Ich dachte, irgendwann wird die Story besser, irgendwann werde ich belohnt für den langen Atem, den ich als Leserin und Hörerin (ja, ich habe beides! Buch und Hörbuch…) bewiesen habe. Jetzt aber denke ich, dass das Lektorat bei einem Stephen King nicht mehr genau hinschaut. Seine Bücher sind Gelddruckmaschinen. Und eingefleischte King-Fans singen ja auch, wie nicht anders zu erwarten, Lobeshymnen auf Fairy Tale. Bekanntheit kommt vor Qualität.

Vorsicht, Spoileralarm!

Zum Schluss noch etwas, das mir gegen Ende der Geschichte sauer aufgestoßen ist. Da bedankt sich eine Empis-Bewohnerin bei Charly mit einem „Danke-Fick“. Da werden zumindest platte Männerfantasien befriedigt … es ist zum Gruseln. Charly wird also entjungfert, das auch noch. Leider findet die blutleere Liebesgeschichte zwischen ihm und Lea kein Happy End. Schließlich ist er in Empis „zeugungsunfähig“ geworden und Lea als neue Königin braucht als Gemahl den passenden Deckhengst … oje! Wie eingangs gesagt: Eine Geschichte wie aus den 1990er Jahren.

Fairy Tale wird nun verfilmt. Ich denke, die Drehbuchautoren geben der Geschichte den Schliff, der ihr fehlt, und einen frischeren Anstrich. Hoffentlich.

Stephen King: Fairy Tale, Heyne, 880 Seiten, September 2022.

Rezension von Jens Balzer in der ZEIT online

Fairy Tale von Stephen King gibt es ungekürzt bei Audible. Mehr als 24 Stunden dauert es – allerdings liest David Nathan das Epos hervorragend. Der angenehmen Lesestimme ist es zu verdanken, dass ich nicht zwischendurch aufgegeben habe.

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