Jetzt muss ich auch noch meinen Senf dazugeben?! Über dieses Buch ist alles gesagt. Stuckrad-Barre hat erreicht, was er wollte: Maximale Aufmerksamkeit. Ich muss gestehen: Ich bin Fan. Panikherz, hier besprochen, fand ich großartig. Beeindruckend, wie Stuckrad-Barre sein Innerstes nach außen stülpt. Kein fiktiver Stoff. Krasser Stoff. Bei „Noch wach?“ gibt es vorsorglich zu Beginn den Hinweis, der Roman wäre fiktiv. Aha, also kein Panikherz, Teil 2. Trotzdem scheint der Roman ziemlich genau die Affäre um Bild-Chefredakteur Julian Reichelt wiederzugeben. Darf er das? Darf Stuckrad-Barre über #metoo bei der Bildzeitung schreiben?
Das ist nur eine Frage von vielen, die der Roman aufgeworfen hat. Und eine Antwort lautet: Nein, darf er nicht. Autorin Mareike Fallwickl hat in einem Interview geäußert, Benjamin von Stuckrad-Barre nähme den Frauen ihre Geschichte weg. Ich kann das Argument nicht ganz nachvollziehen, weil die betroffenen Frauen ihre Geschichte doch mittlerweile erzählen. Sie gaben den Anstoß dazu, dass der Machtmißbrauch gegenüber Frauen bei der Bildzeitung öffentlich wurde. Ich empfehle aktuell den Podcast „Boys Club“. Hier haben die Journalistinnen Pia Stendera und Lena von Holt den Fall Reichelt noch einmal aufgearbeitet. Betroffene Frauen erzählen selbst ihre Geschichte. Und es werden offenbar immer mehr, die sich ihnen anschließen. Ich kann nur empfehlen, sich den Podcast anzuhören.
Noch einmal die Frage: Dürfen sich ausschließlich Frauen äußern? Ich denke nicht. Letztlich geht es doch nicht um ein Entweder-oder. Wäre das nicht ein merkwürdiges Verständnis von Feminismus, wenn Frauen jetzt Männern vorschreiben wollen, worüber sie schreiben dürfen – und worüber nicht?
Ich weiß, das klingt jetzt nach Verteidigung von Stuckrad-Barre. Der hat das gar nicht nötig. Und ich muss gestehen: Ich bin nicht unvoreingenommen an das Buch herangegangen. Denn, ehrlich gesagt, war mir der Hype um das Buch zu viel. Am Ende geht es doch nur darum, Bücher zu verkaufen. Und das war hier so offensichtlich Da habe ich schon keine Lust mehr. Ich dachte auch, ja, da will sich der Autor auf dem Rücken der Frauen profilieren. Beim Lesen bzw.Hören hat sich meine Meinung gewandelt. Vielleicht ist es doch mehr seine Geschichte, also die Aufarbeitung seiner eigenen Verflechtungen mit der Bild und dem Springer-Konzern? Poliert nicht der Roman und der sympathische Ich-Erzähler das eigene Image? Stuckrad-Barre weiß auf jeden Fall, wovon er redet. Er hat selbst gut 10 Jahre für den Springer-Konzern gearbeitet und wie sein Protagonist in „Noch wach?“ war er mit dem Konzernchef befreundet. Es handelt sich also gar nicht um einen #metoo-Roman. Es ist ein echter Stuckrad-Barre. Können wir uns darauf einigen?
Inhalt
Der Ich-Erzähler ist Schriftsteller, Künstler, vielleicht sogar Muse des obersten Konzernchefs, den er immer nur „mein Freund“ nennt. Auch der Chefredakteur besitzt keinen Namen. Die drei Männer (ja, Männer, Männerperspektive… geschenkt), die im Zentrum der Ereignisse stehen, haben keine Namen. Namenlose Akteure. Eine wunderbare Projektionsfläche für reale Vorbilder. Im Roman wird das Thema Freundschaft noch einmal zugespitzt, weil der Autor eine Liebesbeziehung mit dem Konzernchef führt. Vor allem im ersten Drittel der Geschichte wird deutlich, was die beiden verbindet. Es sind ihre (intellektuellen) Gespräche über Musik, Theater, Literatur – hier treffen sich zwei, die ähnlich ticken, zumindest denken sie das eine Zeit lang. Wenn es einem von beiden „schlecht“ geht, bekommt er vom anderen ein „Gottfried Benn Rezept“ ausgestellt. Diese feinsinnigen, ja rührigen, fast melancholischen Eskapaden können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Konzernchef die Linie seines Reißerblatts bzw. Hetz- und Hasssenders mitträgt. Er ist nicht nur Teil des Systems, sondern die Spitze, die darauf achtet, dass die Ordnung erhalten bleibt. Der Umgang mit Wahrheit, Faktenverdrehung, die Ausrichtung auf das rechte Klientel – das alles sind keine Ausrutscher, sondern gehört zur Firmenpolitik. Und dafür steht der oberste Chef ein. Da frage ich mich, wie der Ich-Erzähler es so lange geschafft hat, diesen Umstand zu verdrängen …
Da der Ich-Erzähler viele Wochen des Jahres, vorzugsweise den Winter, im Chateau Marmont in Los Angeles verbringt, kommt er dort über eine rätselhafte Schauspielerin mit der Harvey Weinstein Affäre in Kontakt. Besagte Schauspielerin hat es gewagt, sich gegen Weinstein aufzulehnen und wurde verstoßen, ausgeschlossen aus dem Hollywoodbetrieb. Diese Schauspielerin, mit der sich der Ich-Erzähler über die gemeinsame Zeit am Pool (lesend, schweigend) verbunden fühlt, gibt ihm einen Rat: Sollten Frauen zu ihm kommen und sich ihm anvertrauen, soll er ihnen zuhören. Welch prophetisches Wort! Denn zurück in Berlin geschieht genau das: seine gute Freundin Sophia berichtet davon, dass sie ein intimis Verhältnis zu ihrem Chefredakteure hatte. Nachdem sie die Beziehung beendet hat, wird ihr das beruflich zum Verhängnis. Sophia beginnt endlich, die Zusammenhänge zu sehen. Sie begreift, dass sie nicht die einzige ist, sondern dass es viele junge Frauen gibt, die ähnlich „naiv“ waren wie sie selbst. Sie erkennt schließlich ein Muster: junge, unerfahrene Frauen, die noch ganz am Anfang ihrer Karriere stehen, werden vom Chefredakteur „entdeckt“ und gefördert. Daraus entwickelt sich eine intime Beziehung, aber auch eine berufliche Abhängigkeit. Beenden die Frauen die Beziehung, beendet der Chefredakteur ihre Karriere. Dass es in Wahrheit subtiler ist, ist klar … Der Chefredakteur hat sich nicht strafrechtlich schuldig gemacht. Er hat keine Frau vergewaltigt oder sexuell genötigt. Aber er hat seine Macht mißbraucht. Er hat Frauen ausgenutzt und sie seine Macht spüren lassen. Wenn es nicht mehr so lief, wie er wollte, wurde die Frau aufs berufliche Abstellgleis geschoben.
Der Ich-Erzähler wird schließlich zum Beichtvater der Frauen, dann zum Fürsprecher. Seine Freundschaft zum Konzernchef zerbricht. Ein internes Compliance-Verfahren wird eröffnet. Der Chefredakteur kurzzeitig freigestellt und dann mit Pauken und Trompeten zurückgeholt. Man müsse trennen zwischen Privatperson und Beruf, so die Chefetage.
Wie die tatsächliche Reichelt-Geschichte weitergegangen ist, ist bekannt: 2021 kam es dann doch noch zur Freistellung. Fortan dreht Julian Reichelt scheinbar völlig frei – und aktuell verklagt der Springer-Konzern seinen ehemaligen Chefredakteur sogar. Die Wirklichkeit hat noch mehr zu bieten als der Roman.
In diesem Zusammenhang empfehle ich nicht nur Boys Club, sondern auch die Kolumne von Anna Clauß im Spiegel: „Mir reicht es jetzt. Das Karussell der Männer, die ihre Macht gebrauchen, um über Männer zu schreiben, die ihre Macht missbrauchen, hat sich lange genug gedreht. Es wird Zeit, dass sich mehr Frauen einmischen.“
Noch etwas zum Schluss
Ich wettere hier immer dagegen, wenn Autoren ihr eigenes Werk einlesen. Ich liebe Hörbücher, aber Autor*innen überschätzen sich in der Regel, wenn sie meinen, sie könnten eine Geschichte so lesen, wie das professionelle Stimmen können. Das ist bei diesem Buch anders – und die absolute Ausnahme, zumindest nach meinem Hörempfinden. Stuckrad-Barre liest grandios. Hier passt alles. Ich empfehle das Hörbuch aus dem Argon-Verlag.
Es gibt sooo viele Rezensionen, hier habe ich nur die von Miriam Zeh im Deutschlandfunk verlinkt.
Und jetzt bildet Euch bitte Eure eigene Meinung!