Die spürst du nicht

Nach neun Jahren, wenn meine Recherche stimmt, hat Daniel Glattauer nun einen neuen Roman auf dem Markt. Trotzdem hatte ich nie den Eindruck, er sei weg. Einige seiner Romane wurden in den letzten Jahren verfilmt. Wer „Gut gegen Nordwind“ oder „Die Wunderübung“ gelesen oder im Kino gesehen hat (die Wunderübung ist grandios!), wird vielleicht schon deshalb auch zu „Die spürst du nicht“ greifen. Wer noch nichts von Glattauer gelesen hat, kann ihn nun kennenlernen. „Die spürst du nicht“ ist ganz anders als die anderen Romane von Daniel Glattauer, und das ist gut so. Für Daniel Glattauer passt keine literarische Schublade. „Die spürst du nicht“ ist dieses Mal keine Beziehungsgeschichte, weder Komödie noch Ehedrama, auch keine Liebesaffäre, vielmehr ein Familien- oder Gesellschaftsdrama. Hochaktuell. Spannend und anrührend zugleich.

Inhalt

Zwei Ehepaare fahren gemeinsam mit ihren Kindern in den Urlaub. In der Toskana haben sie ein Haus mit Pool gemietet. Die Binders und die Strobl-Marineks sind schon sehr lange befreundet. Die beiden Frauen – Melanie und Elisa – sind Jugendfreundinnen. Wöhrend Melanie die Selbstverwirklichung hintenangestellt hat (sie wollte Schauspielerin werden…), hat Elisa Karriere gemacht. Von der Umweltaktivistin in die österreichische Politik. Als Grünen-Politikerin wird sie als neue Ministerin gehandelt. Ihre Ambitionen und Ziele sind ehrgeizig. Elisa und Oskars Tochter Sophie Luise ist 14. Kein ganz leichtes Alter. Sie hat es geschafft, dass ihre Schulfreundin Aayana mit in die Ferien kommen durfte. Aayana stammt aus Somalia. Mit ihrer Familie ist sie übers Mittelmeer nach Europa geflüchtet. Aayanas Eltern waren zunächst gegen diesen Urlaub, aber Elisa Strobl-Marinek konnte sie überzeugen – was tut man nicht alles für seine Kinder, damit sie glücklich sind, oder einfach Ruhe geben.

Auf den ersten vierzig Seiten entfaltet Glattauer die perfekte Ferienidylle zweier gut situierter österreichischer Familien, die auch noch ihr Gutmenschentum unter Beweis stellen, indem sie einem Flüchtlingskind einen Luxusurlaub ermöglichen. Das Ambiente wirkt wie aus einem Werbeprospekt: Sonne, Wein, am Pool liegen. Die Kinder sind beschäftigt, fallen ihren Eltern nicht auf die Nerven, alles läuft „gechillt“. Wie in einem Film entfaltet Glattauer ganz knapp auf den ersten Seiten die Ausgangslage für das, was kommt. Und während ich mich noch nach Urlaub sehne und denke, ach ja, in der Toskana wäre ich jetzt auch gern, ist bereits zu spüren, dass unter der Oberfläche einiges brodelt.

Ziemlich gestresst reist Elisa etwas verspätet in der Toskana an. Die anderen sind schon da und bereits in Ferienlaune. Sie aber braucht noch eine Weile, um die Gedanken an ihren Liebhaber zu vertreiben. Sie liegt am Pool und döst, als die Katastrophe geschieht: Aayana, die nicht schwimmen kann, ertrinkt im Pool.

Der Tod des Mädchens ist tragisch. Es war ein Unfall. Aber natürlich ist von Anfang an klar, dass die Erwachsenen ihre Aufsichtspflicht verletzt haben. Im weiteren Verlauf geht es nicht mehr um Aayana, sondern wie die anderen „gut“ aus dieser Sache herauskommen können. Natürlich ist der Fall sofort von gesellschaftlichem Interesse. Erst sieht es so aus, als kämen alle damit durch. Elisa kann den Umstand, dass sie am Pool lag und geschlafen hat, verheimlichen. Aber dann schalten die Eltern von Aayana einen Anwalt ein. Die Strobl-Marineks müssen sich vor Gericht verantworten.

Daniel Glattauer fügt noch eine zweite Erzählebene ein. Er lässt die Presse und auch die vielen Kommentare aus dem Netz zu Wort kommen. Jeder hat heute zu allem eine Meinung. Im Netz darf man pöbeln und Halbwahrheiten verbreiten, über andere urteilen, sie verurteilen, fertig machen … die Kritik und Häme kommt sowohl aus dem rechten, als auch dem linken Lager der Gesellschaft.

„Die spürst du nicht“ – Aayana, das Flüchtlingsmädchen, „spürt“ man nicht. Flüchtlinge werden in der Gesellschaft ausgegrenzt. Integration glückt, wenn jemand sich anpasst, ohne aufzufallen. Aayana möchte sich integrieren. Sie lernt die Sprache, sie geht in die Schule. Dort ist sie eine Exotin. Sophie Luise nimmt sich ihrer an, wie man sich einem Projekt widmet. Sophie macht sich selbst vielleicht interessanter, indem sie Kontakt zu Aayana sucht. So eine kann man ruhig mit in den Urlaub nehmen. Bescheiden, gut erzogen, zurückhaltend. Aayana wird den Protagonisten erst lästig, als sie tot ist.

Aber kann man nach dem Tod eines Menschen so einfach wieder zur Tagesordnung übergehen? Sophie Luise gelingt das nicht. Ihre Eltern sind so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie nicht merken, wie ihre Tochter sich verändert. In ihrer Trauer und Einsamkeit vertraut sich Sophie Luise einem Unbekannten im Netz an. Eine flogenschwere Entscheidung …

„Die spürst du nicht“ – Inwieweit lassen wir das Leid der Welt an uns heran? Wen schockieren heute noch Bilder von ertrunkenen Geflüchteten? Wer interessiert sich für die Geschichte hinter einer Schlagzeile?

Daniel Glattauer führt alle Beteiligten dorthin, wo es wehtut. Er zwingt sie, hinzusehen und hinzuhören. Am Ende bekommt Aayana eine Stimme und eine Vergangenheit. Ihre Geschichte geht unter die Haut.

Von mir bekommt dieser Roman eine absolute Leseempfehlung: kurzweilig, rasant erzählt, mit Wortwitz und gleichzeitig zutiefst traurig beleuchtet Glattauer ein Thema, das in unserer Gesellschaft unterbelichtet ist. Geflüchtete sind Menschen, die nicht ohne Grund ihre Heimat verlassen haben. Sie sind keine undefinierbare Masse oder eine Zahl in der Statistik. Sie haben einen Namen, ein Gesicht, eine Geschichte. Wir sollten uns trauen, hinzusehen und genau hinzuhören. Dazu gehört allerdings, dass wir Menschen, die uns fremd sind, an uns heranlassen – dass wir sie „spüren“.

Daniel Glattauer: Die spürst du nicht, Hanser Literaturverlage.

… als Audible Hörbuch, wunderbar gelesen von Tessa Mittelstaedt und Steffen Groth.

NDR Buchsprechung

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