Seitensprungdiät

Leseprobe

«Ich bin fett»,

jammerte Romy und pulte umständlich mit der linken Hand einen Schokoriegel aus dem Papier.

«Seit meiner Schwangerschaft halten sich die Pfunde hartnäckig auf meiner Hüfte. Mindestens fünf Kilo zu viel.»

«Wenn ich mich recht erinnere, hast du zwei Schwangerschaften hinter dir», lachte Suse.

«Meinst du, es sind zehn?»

Romys Entsetzen war nicht gespielt. Wann hatte sie sich das letzte Mal gewogen? Sie biss ein Stück Schokolade ab.

«Wenigstens kein Jojo-Effekt wie bei mir», sagte Suse, «isst du gerade?»

«Eine Reiswaffel», log Romy und steckte sich den Rest der Schokolade in den Mund.

«Du hast eine super Figur, von wegen Jojo-Effekt!» Sie kaute und sprach gleichzeitig.

«Das hört sich aber gar nicht nach Reiswaffel an, Romy.»

Ertappt. Sie war eine miserable Lügnerin. Ihre Hand griff nach dem nächsten Riegel Schokolade.

«Vielleicht sollte ich es mit Sport versuchen? Ich habe online eine Anfrage bei einem Fitnessstudio gestartet. Das ist doch ein Anfang, oder?»

«Zum Schwitzen musst du dann aber persönlich erscheinen.»

«Du glaubst mir nicht, dass ich das durchziehe, oder?»

Romys iPhone vibrierte. Sie sah kurz auf das Display. «Suse, sei mir nicht böse. Ich muss Schluss machen. Tim ruft an. Ich melde mich bei dir!»

Sie ließ die Schokolade auf den Tisch fallen und nahm das Gespräch an ihrem Handy an. «Falsche Zeit.» Sie sparte sich eine Begrüßung.

«Die Mädchen schlafen längst!»

Romy versuchte, ihren Tonfall leicht klingen zu lassen und nicht nach dem Vorwurf, der in ihren Worten mitschwang. Lotta und Lilli hatten sich so gewünscht, ihrem Vater von einem Experiment zu erzählen, das sie in der Kita durchgeführt hatten. Wie kommt ein gekochtes Ei in eine leere Milchflasche? Die Mädchen gaben keine Ruhe, bis Romy ein Ei kochte und sie den Versuch zu Hause wiederholten. Die brennenden Streichhölzer erloschen jedes Mal, wenn einer der beiden sie in die Flasche warf. Dann versuchten sie es mit einem Stück Papier, zündeten es an, ließen es vorsichtig in die Flasche gleiten und legten das Ei auf den Flaschenhals. Als der Schnipsel verglühte, wurde das Ei wie durch Zauberhand in die Flasche gesogen. Freudentanz. Die Mädchen hüpften durch die Wohnung, klatschten, johlten und rannten zurück in die Küche. Dort starrten sie auf den Flascheninhalt. Wie bekam man das Ei wieder heraus?

Romys Blick fiel auf die Glasflasche auf dem Esstisch und das Ei auf dem Flaschenboden. Es gibt für alles eine Lösung.

Das war Tims Devise.

Konnte er das Unmögliche möglich machen und das Ei aus der Flasche herausholen?

«Wir haben dich vorhin nicht erreichen können. Die Mädchen waren ganz aufgeregt, weil sie dir unbedingt etwas erzählen wollten.»

«Ich muss dir auch etwas erzählen.»

Seine Stimme klang belegt. Er schwieg. Ihm fehlten die Worte. Normalerweise gab es kein Schweigen. Es gab immer etwas. Holst du die Mädchen ab oder ich? Denkst du an die Verabredung am Freitag? Bringst du frische Milch aus dem Bioladen mit und ein kleines Kastendinkelbrot? Meine Mutter hat angerufen und lässt dich grüßen. So etwas in der Art. Aber heute?

Tim saß fast sechshundert Kilometer weit weg von ihr in einem Hotelzimmer, weil er für das Softwareunternehmen, für das er arbeitete, an einem Kongress teilnahm. Sonntag war er aufgebrochen. Ihr Blick ging zur Uhr. Zehn vor elf. Schlafenszeit. Sie hatten sich seit mehr als vierzig Stunden nicht gesehen. Romy lauschte angespannt. Tim ließ sich Zeit.

«Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.» Normalerweise hätte sie ihn spätestens jetzt bedrängt, endlich mit der Sprache rauszurücken. Der hektische Alltag einer Familie verlangte es, ohne Umschweife auf den Punkt zu kommen. Und sie waren gut darin, beide. Romy bedrängte Tim nicht, obwohl sie ihre Ungeduld kaum zügeln konnte. Ohne darüber nachzudenken, begann sie, an ihren Fingernägeln zu kauen.

Wollte sie das, was Tim zu sagen hatte, überhaupt hören?

«Ich bin mit Katja hier. Ich wollte, dass du das weißt.»

Romy ließ von ihrem Fingernagel ab. «Katja?»

Wie meinte er das?

«Natürlich ist Katja bei dir.» Romy verstand nicht. Hatte Tim erwähnt, dass er mit einer Kollegin an dem Kongress teilnahm?

«Es tut mir so leid.»

Seine Stimme brach. Er zog die Nase hoch. Es hörte sich an, als weine er.

«Tim?» Der Mann, der nicht einmal bei der Geburt seiner Töchter eine Träne vergossen hatte, heulte Rotz und Wasser. Er brauchte einen Moment, bis er sich gefasst hatte. «Scheiße», presste er hervor und schnäuzte sich.

«Kannst du bitte so mit mir reden, dass ich verstehe, was du mir sagen willst?»

Sie sprach jedes Wort überdeutlich und langsam aus. Tim hasste diesen Tonfall. Seine Stimme gewann wieder an Kraft.

«Ich kann so nicht weitermachen.» Und etwas leiser: «Ich wollte, dass du weißt, dass ich mich mit Katja auch außerhalb der Firma treffe.»

Romys Finger schlossen sich fester um das flache Telefon. Die drahtlose Übertragungstechnik war ihr genauso unbegreiflich wie der Inhalt seiner Worte. Romy wünschte, sie hätte sich verhört.

«Du triffst sie?»

In schnellen Schritten durchmaß sie ihre Zwei-Zimmer-Altbauwohnung. Er traf sie außerhalb der Firma? Was genau bedeutete das? Sie verließ die große Wohnküche und betrat den Flur. Die Dielen knarzten. Sie war barfuß. Das Wohnzimmer diente gleichzeitig auch als Schlafzimmer. Fünf Schritte bis zum Sofa, das sie noch ausziehen musste, um darauf schlafen zu können, drei weitere Schritte bis zur Balkontür. In der Wohnung gegenüber stand ein Mann mit dem Rücken zum Fenster, in der Hand ein Glas, eine Frau betrat den Raum, um kurz darauf wieder zu verschwinden. Der Mann stellte das Glas auf die Fensterbank, zog ein Handy aus der Gesäßtasche, beschäftigte sich mit dem Gerät, ohne aufzusehen. Romy lehnte ihre Stirn an den sonnenwarmen Türrahmen.

«Bist du noch dran?», fragte Tim.

Bedeutet es das, was ich denke? Sie hob den Kopf, um ihn noch einmal fest auf das Holz knallen zu lassen. Hat ja gar nicht wehgetan, hörte sie die Stimme von Lotta in ihrem Kopf, die niemals zugeben würde, wenn ihre Schwester es geschafft hatte, sie zu verletzen.

«Romy?»

Er hat was mit ihr? Von wegen, er trifft sie! Er fickt sie. Das war es, was er ihr sagen wollte. Jetzt würde sie ihn zu gern ohrfeigen, ihn an den Schultern packen und schütteln. Aber er war nicht da. Romy legte die flache Hand auf die Stirn und schloss die Augen. Dieser feige Hund nutzte das Telefon, um ihr in diesem Moment nicht in die Augen blicken zu müssen. Ein Feigling, ja, aber noch schlimmer wog der Vertrauensbruch. Er war ein mieser Verräter!

«Ist sie jetzt gerade bei dir? Hört sie unser Gespräch mit?» Flüstert sie dir ein, was du sagen sollst? Katja, diese dumme Schlampe!

«Nein, sie ist nicht da. Ich bin allein», antwortete er.

Romy glaubte ihm nicht. Dieser Mann war ihr von der einen zur anderen Sekunde völlig fremd. Scheinbar irritierte ihn ihre Einsilbigkeit.

«Willst du noch etwas sagen?», fragte er.

Sie schwieg.

«Dann reden wir, wenn ich wieder da bin?» Er sagte nicht, wenn ich wieder zu Hause bin. Sie ging vor der Balkontür in die Knie und sagte mit dem kläglichen Rest ihrer Fassung: «Ja, lass uns dann reden.» Das iPhone glitt ihr aus der Hand. Am liebsten hätte sie es vom Balkon auf die Straße geworfen. Miststück!