Als der neue Daniel Kehlmann im Oktober erschien, habe ich den Fehler gemacht, das Literarische Quartett zu sehen. Die dort geübte Kritik an Kehlmanns neuem Werk hat es mir erst einmal verleidet. Das Buch blieb liegen. Einen neuen Versuch habe ich nun zwischen den Jahren unternommen – und zwar mit der Hörbuchversion. Ulrich Noethen liest Tyll – seine Stimme und sein Ausdruck gehen eine wunderbare Symbiose mit Kehlmanns Sprache ein. Vielleicht sollte es für mich so sein: Mich dem Stoff hörend zu nähern. Als Kind hatte ich eine Langspielplatte der Firma EUROPA mit Geschichten über Till Eulenspiegel. Till, der freche Schelm und Gaukler, der sich gerne einen Spaß erlaubt, meistens auf Kosten anderer.
Daniel Kehlmanns Tyll stiftet wie der Till aus dem Hörspiel ein großes Durcheinander, als er die Leute auf dem Markt dazu bringt, sich einen Schuh auszuziehen und in die Luft zu werfen. Till wie Tyll sind Unruhestifter. Und für mich bleiben es Personen, mit denen ich einfach nicht ganz warm werde. Trotzdem finde ich es einen genialen Kniff von Daniel Kehlmann, die sagenumwobene Figur des Till, die vermutlich ihren Ursprung im 14. Jh. hat, in die Zeit des 30jährigen Krieges zu verlegen. Dort wirkt er wie aus der Zeit gefallen – klug, frech, geschickt, mit tausend Leben ausgestattet und weniger lustig als vielmehr traurig.
Tyll Ulenspiegel ist noch ein Kind, als sein Vater der Hexerei angeklagt wird. Der Müller ist ein seltsamer Mann mit einer Menge seltsamer Gedanken, die ihn tagein tagaus beschäftigen. So beobachtet er auf dem Boden unterm Dach liegend den Mond, wundert sich darüber, dass er nicht immer am gleichen Fleck zu sehen ist und versucht, die Bewegung des Gestirns nachzuvollziehen. Er wäre gern ein Gelehrter geworden. Aber dieser Weg ist ihm in seiner Zeit verwehrt. Ein Mann zwischen Aberglauben und Wissenschaft. Mit seiner Verhaftung und Hinrichtung als Hexer beginnt Tylls Geschichte. Tyll rennt zusammen mit der Bäckerstochter Nele fort, um sich dem fahrenden Volk anzuschließen. Er selbst ist geschickt. Er jongliert mit Bällen, kann auf dem Seil balancieren. Nele tanzt. Die beiden ziehen die Menschen in ihren Bann. Dieses Leben bietet ihnen ein hohes Maß an Freiheit, gleichzeitig stolpern sie schutzlos und ehrlos durch die Wirren der Kriegsjahre.
Daniel Kehlmann schreibt keine historische Biographie über die Figur des Tyll. Sie dient ihm nur als Verbindung, als eine Art Kitt, der die verschiedenen Episoden zusammenhält: Die Geschichten vom sogenannten Winterkönig, der verheiratet mit der stolzen Elizabeth Stuart seine Jahre arm und glücklos im Exil verbringen muss – für mich ist Liz eine der wichtigsten Hauptfiguren des Romans. Oder die Episode um den dicken Grafen, der den Tyll zum Kaiser nach Wien bringen soll, und dabei in die letzte Schlacht des 30jährigen Krieges bei Zusmarshausen gerät. Oder der Gelehrte Athanasius Kircher, der ein Mittel gegen die Pest sucht und dazu – wie andere Gelehrte seiner Zeit – auf die Heilkraft von Drachenblut baut. Es gehört zum Wesen eines Drachen, dass man ihn nicht aufspüren kann, und gegen Ende des Romans heißt es, dass der letzte Drache in der holsteinischen Ebene stirbt. „Er war siebzehntausend Jahre alt.“
Fortschritt. Zeitenumbruch. Individualität. Wissenshunger. Freiheit. Sehnsucht. Die Liste der Themen, die für mich aus der Lektüre nachklingen, ist lang. Ich bin froh, dass ich Tyll noch eine Chance gegeben habe.
Daniel Kehlmann: Tyll, Rowohlt, Oktober 2017, 480 Seiten.
Ulrich Noethen liest Tyll, Hörbuch im Argon Verlag